Forum Kunst und Literatur Literatur zeitkritische texte...gestern & heute

Literatur zeitkritische texte...gestern & heute

Mitglied_bed8151
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf pilli vom 04.04.2010, 00:16:38

Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie natürlich auch untereinander Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde Fischlein zu erobern. Die Kriege würden sie von ihren eigenen Fischlein führen lassen. Sie würden die Fischlein lehren, dass zwischen ihnen und den Fischlein der anderen Haifische ein riesiger Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden sie verkünden, sind bekanntlich stumm, aber sie schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und könnten einander daher unmöglich verstehen. Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein, feindliche, in anderer Sprache schweigende Fischlein, tötete, würden sie Orden aus Seetang anheften und den Titel Held verleihen.

aus... Brecht, B.: Wenn die Haifische Menschen wären (Geschichten vom Herrn Keuner, in... Kalendergeschichten, Verlag Gebrüder Weiß, Berlin, 1948)

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Wolfgang
enigma
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Mitglied

Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von enigma
Das dritte Reich

Es braucht ein hohes Ideal
der nationale Mann,
daran er morgens allemal
ein wenig turnen kann.
Da hat denn deutsche Manneskraft
in segensreichen Stunden
als neueste Errungenschaft
ein Ideal erfunden:
Es soll nicht sein das erste Reich,
es soll nicht sein das zweite Reich ...
 
Das dritte Reich?
Bitte sehr! Bitte gleich!
Wir dürfen nicht mehr massisch sein –
wir müssen durchaus rassisch sein –
und freideutsch, jungdeutsch, heimatwolkig
und bündisch, völkisch, volkisch, volkig ...
und überhaupt.
Wers glaubt,
wird selig. Wer es nicht glaubt, ist
ein ganz verkommener Paz- und Bolschewist.
 
Das dritte Reich?
Bitte sehr! Bitte gleich!
Im dritten Reich ist alles eitel Glück.
Wir holen unsre Brüder uns zurück:
die Sudetendeutschen und die Saardeutschen
und die Eupendeutschen und die Dänendeutschen ...
Trutz dieser Welt! Wir pfeifen auf den Frieden.
Wir brauchen Krieg. Sonst sind wir nichts hienieden.
Im dritten Reich haben wir gewonnenes Spiel.
Da sind wir unter uns.
Und unter uns, da ist nicht viel.
Da herrscht der Bakel und der Säbel und der Stock –
da glänzt der Orden an dem bunten Rock,
da wird das Rad der Zeit zurückgedreht –
wir rufen »Vaterland!«, wenns gar nicht weiter geht ...
Da sind wir alle reich und gleich
im dritten Reich.
Und wendisch und kaschubisch reine Arier.
 
Ja, richtig ... Und die Proletarier!
Für die sind wir die Original-Befreier!
Die danken Gott in jeder Morgenfeier –
Und merken gleich:
Sie sind genau so arme Luder wie vorher,
genau solch schuftendes und graues Heer,
genau so arme Schelme ohne Halm und Haber –
Aber:
im dritten Reich.
Und das sind wir.
Ein Blick in die Statistik:
Wir fabrizieren viel. Am meisten nationale Mistik.
 
 
Theobald Tiger
Die Weltbühne, 06.05.1930, Nr. 19, S. 686.






Wilhelm-Gerhards
Wilhelm-Gerhards
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von Wilhelm-Gerhards
als Antwort auf myrja vom 01.07.2010, 12:25:17
Für mich ist es immer wieder ein Phänomen, dass wir das alles wissen, dann niederschreiben und nichts gegen die Missstände unternehmen.

Wie ist das eigentlich bei der Veröffentlichung von Texten auf dieser Plattform, wird hier das Urheberrecht berücksichtigt, liegt eine Genehmigung zum Abdruck vor?

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pilli
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Mitglied

Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von pilli
als Antwort auf Wilhelm-Gerhards vom 17.08.2010, 10:46:52
sei unbesorgt, Wilhelm-Gerhards,

eine vielzahl der forengemeinschaft des ST ist bestens informiert und wenn es unklarheiten hatte, da haben einige dann die dafür richtigen stellen angeschrieben bzw. per fon kontaktiert. ich meine mich zu erinnern, dass zumindest bis vor kurzer zeit, zu den themen im ST auch noch niemand unter einem anderen nick eine rezension für das eigene buch geschrieben hat...oder doch?

trifft das auch für dich in dieser geschichte zu? : siehe hierzu die diskussion im ST:

Rezension


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pilli

longtime
longtime
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Re: zeitkritische texte... - heute am 17.08.: von Kurt Tucholsky
geschrieben von longtime
als Antwort auf pilli vom 17.08.2010, 11:03:43
Eintrag zum 17. August:

KT: Frühe pazifistische Bekenntnisse in einem Brief vom 17. August 1918 an Mary:

„Er fragt, warum die, die im Kriege Menschen töten, noch Blech angehängt bekommen zur Belohnung. Weil alle Moral auf Nützlichkeit aufgebaut ist – bis auf einen kleinen Rest, den man nicht erklären kann, und der der Philosophie so viel zu knacken gibt. Diebstahl ist deswegen so verschrieen – in der Hauptsache – weil er uns schadet, Mord auch. Und dieser Mord soll nutzen, und es ist noch nicht – nach 6000 Jahren noch nicht – in die Köpfe gegangen, daß Blut Blut ist und daß es keinen geheiligten Mord geben darf. Natürlich ist kein Unterschied. Nur die Betrachtungsweise dieser Tiere macht einen: der Mörder ist ein Unhold, Richthofen ist ein Held. Dabei sind beide mitunter beides. Das wird nicht aufhören, bis der Wahnsinn der Staaten aufhört.(…)"

*

So Kurt Tucholsky an seine spätere Frau Mary (am 17.08.1918).

Über den Gesamtzusammenhang der Frühzeit zwischen KT und seine Mary Gerold, die ich nicht MG abkürzen mag):


Mit Bildern beider aaus dem Jahre 1918/19:

Tucholsky und Mary Gerold
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf pilli vom 04.04.2010, 00:16:38

Resignation

Es gibt noch Leute, die sich quälen,
Aus denen sich die Frage ringt:
Wie wird der Deutsche nächstens wählen?
Wie wird das, was die Urne bringt?

Die Guten! Wie sie immer hoffen!
Wie macht sie doch ein jedes Mal
Der Ausfall neuerdings betroffen!
Als wär' er anders, wie normal!

Wir wissen doch von Adam Riese,
Dass zwei mal zwei gleich vieren zählt.
Und eine Wahrheit fest wie diese
Ist, dass man immer Schwarze wählt.

Das Faktum lässt sich nicht bestreiten,
Auch wenn es noch so bitter schmeckt.
Doch hat das Übel gute Seiten:
Es ruhet nicht auf Intellekt.

Man muss die Sache recht verstehen;
Sie ist nicht böse, ist nicht gut.
Der Deutsche will zur Urne gehen,
So wie man das Gewohnte tut.

Wer hofft, dass es noch anders würde,
Der täuscht sich hier, wie überall.
Die Schafe suchen ihre Hürde,
Das Rindvieh suchet seinen Stall.

von... Ludwig Thoma (geb. 1867, gest. 1921)

Wie jede(r) weiß, gab es damals noch nicht den bayerischen Seehofer und auch nicht die preußische Merkel. Aber die Schafe respektive die Rindviecher gab es damals schon.

--
Wolfgang

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Milan
Milan
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von Milan
als Antwort auf enigma vom 17.08.2010, 10:14:59
Die Raupe

Die Raupe auf dem Baume saß
Und von der Kron' die Blätter fraß.
Sie war im bunten Kleide,
Als wie von Samt und Seide,
Ein Staatsminister ging vorbei,
Der sah das Tier und rief: "Ei, ei!
Wie konnt es dir gelingen?
's geht nicht zu mit rechten Dingen!
Du unbegreiflich dummes Tier!
Ich wund're mich, drum sage mir:
Wie hast du's unternommen
Und bist so hoch gekommen?"
Und als die Raupe blieb nicht stumm,
Da wurd' er rot und dreht sich um.
Die Raupe hat gesprochen:
"Mein Freund, ich bin gekrochen!"
Adolf Glaßbrenner, (1810 - 1876),
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf pilli vom 04.04.2010, 00:16:38

Die Paralyse der Kritik: eine Gesellschaft ohne Opposition

Dient nicht die Bedrohung durch eine atomare Katastrophe, die das Menschengeschlecht auslöschen könnte, ebensosehr dazu, gerade diejenigen Kräfte zu schützen, die diese Gefahr verewigen? Die Anstrengungen, eine solche Katastrophe zu verhindern, überschatten die Suche nach ihren etwaigen Ursachen in der gegenwärtigen Industriegesellschaft. Diese Ursachen werden von der Öffentlichkeit nicht festgestellt, bloßgelegt und angegriffen, weil sie gegenüber der nur zu offenkundigen Bedrohung von außen zurücktreten - für den Westen vom Osten, für den Osten vom Westen. Gleich offenkundig ist das Bedürfnis, vorbereitet zu sein, sich am Rande des Abgrundes zu bewegen, der Herausforderung ins Auge zu sehen. Wir unterwerfen uns der friedlichen Produktion von Destruktionsmitteln, der zur Perfektion getriebenen Verschwendung und dem Umstand, dass wir zu einer Verteidigung erzogen werden, welche gleichermaßen die Verteidiger verunstaltet wie das, was sie verteidigen.

[...]

aus... Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Vorrede

Der eindimensionale Mensch ist ein Werk des Philosophen und Soziologen Herbert Marcuse. Es erschien 1964 in den USA unter dem Titel One-Dimensional Man und wurde später auch in Deutschland verlegt. Untertitel: Die Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft.

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Wolfgang
enigma
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von enigma
Das Russell-Einstein-Manifest

Vor einigen Tagen habe ich mir noch einmal die Stellungnahme durchgelesen, die im Jahre 1955 von Bertrand Russell an die Presse gegeben wurde.
In diesem von namhaften und angesehenen Wissenschaftlern unterzeichneten Aufruf wird auf die Schrecken einer nuklearen Kriegsführung hingewiesen.
Albert Einstein hatte die Stellungnahme noch in seinen letzte Lebenstagen unterzeichnet.
Der Text war allen Großmächten mit folgendem Begleitschreiben von Russell zugestellt worden:

„Beiliegend überreiche ich Ihnen eine von einigen der angesehensten wissenschaftlichen Autoritäten unterzeichnete Stellungnahme zur nuklearen Kriegsführung. Es wird auf das absolute und nicht wieder gut zu machende Unglück, das mit einer solchen Kriegsführung verknüpft sein würde, besonders hingewiesen. Es ergibt sich die Notwendigkeit, irgendeinen anderen Weg zu finden, auf welchem internationale Streitigkeiten beigelegt werden können. Ich hoffe zutiefst, das Sie sich öffentlich zu diesem Problem äußern werden. Es ist das ernsteste von allen, vor welche die Menschheit jemals gestellt worden ist.

Ihr ergebener
Bertrand Russell „

Wen es interessiert: Der Text der Stellungnahme
ist hier zu finden:


Enigma
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf pilli vom 04.04.2010, 00:16:38

Als bei Kriegsausbruch im Jahre 1914 die Millionenheere sich auf Eisenbahn und Dampfschiff in Bewegung setzten und die Kunde dieses schrecklichen Ereignisses vom elektrischen Fernsprecher, vom elektrischen Fernschreiber und über die drahtlose Telegrafie in Blitzeseile die Runde um den Erdball machte, dachte niemand an einen länger dauernden großen Krieg wegen der internationalen Verflechtung der Weltwirtschaft und infolge des Glaubens an die Herrschaft der Vernunft. Der eine wie der andere Glaube des liberalen Zeitalters wurde durch den über vier Jahre andauernden Krieg Lügen gestraft. Das Näherrücken der Völker durch die moderne Verkehrs- und Nachrichtentechnik, der gesteigerte Güter- und Warenaustausch hatten nicht nur gemeinsame Interessen erzeugt, sondern auch vorhandene Gegensätze verschärft, gesteigert und neue geschaffen. Das einspurige Fortschrittsdenken erwies sich als Selbstbetrug von furchtbaren, unabsehbaren Folgen; die Kehrseite der Medaille trat nun unverhüllt in Erscheinung. Die Weltwirtschaft, ihr Aufbau, ihre Ausgestaltung, ihr Wachstum, barg in sich durch den schrankenlosen Wettbewerb und ihren dämonischen Ausdehnungsdrang den Zwang zum Kampf um die Weltherrschaft.

aus... Georg Franz-Willing: Die technische Revolution im 19. Jahrhundert. Der Übergang zur industriellen Lebensweise, Hohenrain-Verlag, Tübingen, 1988, S. 270

Brandaktuell! -- Wolfgang

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