Die Stradivari[size=14][/size]
In alter, längst vergangener Zeit, als viele Menschen in Armut und Not lebten, aber zufriedener waren als heute, zog ein Mann Tag für Tag mit seiner Geige durch die Dörfer und ernährte von den paar Groschen, die man ihm zuwarf, seine Familie. Nie sah man ihn mißmutig, obwohl er nichts weiter besaß, als seine Geige. Die aber war für ihn sehr wertvoll.
Als er alt geworden war und im Sterben lag, gab er seinem Sohn, der ihn auf seinen Touren manchmal begleitet hatte, das vom Gebrauch abgegriffene Instrument und sagte:
„Mein lieber Sohn, ich kann dir nichts weiter als nur diese Geige geben. Dieses alte Instrument ist von unschätzbarem Wert, bewahre es gut. Mir hat es ein Leben lang Freude geschenkt und ich habe vielen Menschen damit Freude bereitet. Das ist ein Reichtum, der mit nichts aufzuwiegen ist!“
Sprach es und verschied. Der Sohn, ein Mann in den besten Jahren und rechtschaffener Handwerker, hatte mit Musik jedoch nichts im Sinn. Er hat nie verstanden, daß sein Vater auf allen Hochzeitsfeiern und Dorf-Festen zur Belustigung des Volkes aufspielte, aber stets ein armer Mensch geblieben ist. Gewiß, er konnte gut mit der Geige umgehen, wurde deshalb auch bewundert und war immer fröhlich, aber vorangekommen … – Nein, der Sohn wollte von Musik nichts wissen, er ging lieber seinem Handwerk nach, das zwar harte Arbeit war und keinen Reichtum brachte, aber die Familie ernährte. Die Geige bekam einen Ehrenplatz in einer Vitrine, die verschlossen wurde. Jedesmal, wenn er das Instrument anschaute, dachte er an seinen Vater, der mit dieser Geige so glücklich war.
Die Zeit lief weiter und die Geige in der Vitrine wurde zu einem gewohnten Anblick, wie ein Bild an der Wand. Längst dachte man dabei nicht mehr an den alten Mann und seine stille Freude, die sein Reichtum gewesen ist. Der Sohn, mittlerweile alt geworden, hatte seine Werkstatt der nächsten Generation übergeben und sich zur Ruhe gesetzt. Der neue Chef aber modernisierte Haus und Werkstatt, brachte die alte Geige seines Großvaters, die nicht mehr in das heutige Bild paßte, auf den Dachboden und gründete eine Familie. Er folgte dem Zug der Zeit und richtete neben der Werkstatt einen kleinen Laden ein.
Jahre vergingen und das Geschäft lief so gut, daß die Werkstatt einem Erweiterungsbau weichen mußte. Das aber kostete Geld. Er überlegte, ob er nicht die alte Geige Großvaters, die bestimmt wertvoll war, verkaufen und das Geld in den Umbau stecken sollte – denn schließlich ist sie ja Großvaters ganzer Reichtum gewesen – vielleicht ist sie sogar eine „Stradivari“?! Doch dann beschloß er, es aus eigener Kraft zu versuchen. Die Geige könnte man immer noch verkaufen, wenn es erforderlich werden sollte. Ein Stück Sicherheit war sie allemal.
Der Umbau war vollbracht, sogar gut gelungen. Mit der Zeit wuchs bei dem jungen Kaufmann der Wunsch, weiter zu expandieren und Filialen aufzubauen. Wieder grübelte er, ob er das wertvolle Erbstück von Großvater einsetzen soll, kam jedoch zu dem Entschluß, es auch diesmal erst selbst zu versuchen. Wenn alles gut ginge, und man den Wert der Geige nicht für das Geschäft einsetzen muß, könnte man sie nach dem Ausscheiden aus dem Geschäftsleben gegen eine Weltreise eintauschen. Das wäre doch ein würdiger Abschluß und der Großvater hätte bestimmt nichts dagegen.
Gesagt, getan - es funktionierte. Mit hartem Einsatz, Mut und auch ein wenig Glück konnte eines Tages der ehemalige Enkel, der nun selbst bereits Großvater geworden war, sich in seinem Sessel zurücklehnen und auf sein aus eigener Kraft erschaffenes Imperium schauen.
Er erinnerte sich an den Beginn vor langer Zeit – ach ja, und an die alte Stradivari. Es wäre genau jetzt, nachdem alles geschafft war und in geordneten Bahnen verlief, der rechte Zeitpunkt, sie zu verkaufen. Sie hat nun als eiserne Rücklage ausgedient. Man sollte wirklich eine Weltreise machen und den Erlös für die Stradivari dafür verwenden. Also wurde die Stradivari vom Dachboden geholt, vorsichtig vom Jahrzehnte alten Staub befreit und in ein weiches Tuch gewickelt. Das wertvolle Stück sollte auf seinem letzten Weg doch nicht noch Schaden nehmen.
Mit einem seltsamen Gefühl zwischen Feierlichkeit und Abschiedsschmerz betrat man, die Stradivari im Arm, den Laden des Antiquitätenhändlers, legte das gute Stück sanft auf die Theke, schlug das Tuch zurück und schaute den Händler erwartungsvoll an. Doch dieser erschauerte nicht in Ehrfurcht, sondern man hatte eher das Gefühl als schwanke er zwischen Arroganz und Höflichkeit, als er sagte:
„Meine Herrschaft, ich glaube, bei mir sind Sie nicht an der richtigen Adresse, ich fürchte, Sie hätten nicht einmal beim Pfandleiher Erfolg. Dies Instrument ist zwar alt, aber keinesfalls wertvoll, schon gar nicht eine Stradivari – tut mit leid!“
Auch wenn Geld nicht mehr die große Rolle spielte wie noch zu Urgroßvaters Zeiten, so fühlte man doch ein heimliches Entsetzen. Die wertvolle Rücklage für Notfälle erwies sich nun als Luftblase. Was wäre wohl geschehen, wenn …
Und die Moral von der Geschichte: Allein der Glaube hat alles bewirkt, der Mut und die Zuversicht.

WernerStyrum

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Kommentare (2)

brixana

Lieber Werner,
gerne habe ich diese Geschichte gelesen. Sie ist so liebevoll erzählt. Gut, daß jeder zuerst einmal ohne Hilfe sein wirtschaftliches Leben gestalten wollte. Sicher war der Enkel zum Schluß enttäuscht, aber ich denke, er hat die Geige trotzdem behalten, auch wenn es keine Stradivari war.
Gruß
brixana
Syrdal

Diese nachdenklich-schöne Geschichte von der vermeintlichen Stradivari, die dem Großvater mit seinem melodischen Spiel den Broterwerb für sich und seine Familie ermöglichte, dann aber auf philosophisch hintergründige Weise in den Köpfen der folgenden Generationen ihren unbestreitbaren imaginären „Wert“ hat, klingt wie eine Erzählung „aus dem richtigen Leben“ und ist dabei so liebevoll und anschaulich formuliert, dass man sie immer wieder gerne lesen möchte. – Sie hat mich sehr erfreut...
Syrdal


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