Verwunschene Gedanken XI.


Verwunschene Gedanken XI.

 
Ein Randerlebnis
       Ich war diesen Weg noch nicht so oft zu Fuß gegangen, heute musste es mal sein. Dieser Weg zum kleinen Bahnhof außerhalb des Ortes war schon beschwerlich, zumal es an diesem ungemütlichen Tag besser gewesen wäre, daheim in den warmen vier Wänden zu bleiben. Die Bäume der Pappelallee hielten mit ihren kahlen Zweigen noch ihren Winterschlaf, gewiss träumten sie von den wärmenden Tagen des kommenden Frühlings. Nebel stieg aus den Niederungen auf und wickelte die Felder und Wiesen in ein graues Tuch mit filigranen Fransen ein. Die kalte Luft schlich leise durch die hohen trockenen Gräser.
       Es war still. Eine vollkommene Ruhe hatte sich über das Land gelegt. Die Vögel des Sommers waren noch nicht eingetroffen, sie würden aber bald die Weiten der Landschaft beleben. Es war schon eine Aufbruchsstimmung, die in der Luft lag. Die Leichtigkeit des Frühlings ahnte man bereits.
       Einen Steinwurf vor mir ging ein alter Mann den gleichen Weg wie ich. Seine Schritte waren langsam und schwerfällig. Die linke Hand steckte tief in seiner Jackentasche. Die rechte schlenkerte herum, griff ab und zu ins Leere oder gestikulierte. Es hatte den Anschein, als diskutiere er mit einer unsichtbaren Person. Immer dann nämlich, wenn seine Hand nach rechts griff, wendete er ebenfalls seinen Kopf in die gleiche Richtung. Dann wirkten auch seine Schritte irgendwie beschwingter, leichter.
       Eine geraume Zeit ging ich bereits hinter diesem Mann her. Meine Schritte passte ich dabei seinem Tempo an, nicht lange darauf waren wir auch schon an dem kleinen Bahnhof angelangt. Einige Personen warteten bereits auf den Triebwagen, der in Kürze eintreffen musste.
       Dieser Bahnhof hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Früher war er ein beliebter Treffpunkt der Menschen des kleinen Ortes. Hier hielten zeitweise sogar Schnellzüge, die die Fahrgäste in die Großstadt beförderten. Heute wirkte er mit seiner morbiden Gründerzeitfassade nicht nur verfallen, er war es auch. Der Putz hatte sich an vielen Stellen von der Wand gelöst und lag in hässlichen kleinen Häufchen an den Rändern des Gebäudes. Es war, als hätte sich das Leben hier endgültig von der Zeit verabschiedet. Schon seit langer Zeit benutzte diesen Bahnhof nur noch die Regionalbahn als Haltepunkt. 
     Über der Betrachtung des Bahnsteigs war ich unbeabsichtigt an dem alten Mann vorübergegangen und stand nun einige Meter neben ihm. Sein ganzes Leben konnte man ihm vom Gesicht ablesen. Sein Blick erschien trüb, dunkle Ringe umrahmten die Augen. Wie eingekerbt zogen sich tiefe Falten durch sein Gesicht. Beim Näherkommen wirkten seine Augen weniger müde. Es erschien mir geradezu spitzbübisch, wenn er zur Seite schaute und immer wieder nach rechts blickte. Leise und beschwichtigend flüsterte er auf eine imaginäre Person nein.
       Als er mich wahrnahm, fühlte er sich wohl ertappt, nickte mir freundlich zu und sagte leise mit einem Lächeln in den Augen: »Wissen Sie, sie fährt gleich zu ihrer Mutter!« Auf meinen erstaunten Blick hin bemerkte er dann noch: »Wir waren doch seit 60 Jahren noch nie getrennt. Sie ist da etwas unbeholfen. Aber ich bin ja da!« 
     Dabei zwinkerte er mir lächelnd zu, ich konnte darauf nur innerlich erschrocken nicken. Dann schaute er mit beruhigendem Blick ins Leere neben sich. Dabei streichelte seine rechte Hand zärtlich in die Luft. Wir standen ein paar Armlängen voneinander entfernt. Ich konnte ihn zwar flüstern hören, seine Worte aber nicht verstehen.
       Der graue Nebel schwebte wie ein Schleiervorhang über Bahnhof und Gleise, verschluckte die Geräusche fast bis zur Unkenntlichkeit. Ich gehe sogar so weit zu sagen, er legte sich auch auf mein Gemüt. Ich wurde sehr nachdenklich beim Anblick des alten Mannes.
       Der kurze grüne Regionalzug schlich endlich aus dem Nebelvorhang heraus. Ich stieg ein, sah den Alten noch auf dem Bahnsteig stehen und in ein Abteilfenster hineinschauen. Sein Gesicht in dem dämmerigen Licht schien erschreckend grau. An seinen Wangen liefen Tränen herunter. Dann hob er langsam seinen rechten Arm und begann zu winken. Sein Blick schaute dabei ins Leere - in die Unendlichkeit.
     Auf dem Sitz vor mir saßen zwei junge Mitreisende, die ebenfalls gerade eingestiegen waren. Ich bemerkte, wie sie amüsiert ihre Köpfe schüttelten: »Nu guck doch mal, der verrückte Alte! Der steht jeden Sonnabend um diese Zeit da und winkt. Dabei ist seine Frau doch schon zwei Jahre unter der Erde!«
Der Triebwagen fuhr wieder an, ich sah den Alten noch winkend auf dem Bahnsteig stehen. Ich schämte mich heimlich für die Worte, die ich gehört hatte:
Der verrückte Alte!

©by H.C.G.Lux

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Kommentare (8)

Syrdal


Lieber Pan, dieser „Blick ins Leere“ ist auch mir wohlbewusst... am Grab meiner Liebsten – seit 16 Jahren wieder und wieder...
Syrdal
 

Pan

Lieber Syrdal - wer könnte so etwas nicht verstehen?
Wir alle hängen am Lebendigen, an den Vorgängen, die wir einst mit beeinflusst haben. Unbd dann geschah das, woran niemand gedacht hat.
Karma? Schicksal oder nicht - wir ändern nichts.
Loslassen ist zwar richtig, aber das heisst ja nicht, dass wir alles hinter uns lassen sollen! Mit allen Gedanken in den Neuen Tag- das muss die Devise sein. Nichts bleibt, wie es ist - auch wir nicht,
meint mit einem nachdenklichen Blick ~~~
Horst


 

werderanerin

Eine traurige Geschichte aber man sieht daran, dass "Trauerbewältigung" sehr unterschiedlich passieren kann. Jeder macht es auf seine, ganz eigene Art und Weise.

"Loslassen" ist oft schwer..., hört man aber in sich hinein, sagt einem die Seele schon sehr genau, was gut tut.

Kristine

Christine62laechel


Als Oberschülerin, und später als Studentin, kam ich alle paar Tage oder alle paar Wochen in meinen ehemaligen Heimatort, meistens mit dem Zug gefahren. Auf dem Bahnsteig konnte ich oft eine Frau sehen: Zwischen 50 und 60 wahrscheinlich. Immer hatte sie denselben dunkelgrünen Regenmantel an, unabhängig von der Jahreszeit, und vom Wetter. Erwartungs-voll schaute sie sich sie Aussteigenden an, ob da nicht auch die Person dabei wäre, auf deren Ankunft sie nach und nach hoffte? Von meinen Eltern habe ich erfahren, dass sie ihren verstorbenen Ehemann doch noch begrüßen zu können hofft. Mal habe ich gehört, dass sie einen Namen laut ausrief. An dem Tag konnte ich mich lange nicht mehr beruhigen.

Mit Grüßen
Christine

Pan

Loslassen will auch gelernt sein. Auch wenn es manchmal sehr schwer fällt - es ist wichtig!
Aber das Ganze als Anekdote zu sehen, ist dennoch falsch. Es ist die Seele, die auch ein Wort zu sagen hat ...
 

Christine62laechel

@Pan  

Dies war aber nicht eine Antwort auf meinen Kommentar, nehme ich an. :)

Rosi65

Lieber Horst,
es scheint fast so, als hätte sich der alte Mann einen früheren und glücklichen Lebensmoment  in seinem Herzen konserviert, den er in einem sich wiederholenden Ritual immer wieder neu erlebt.
Eine sehr berührende Geschichte.

Rosi65

Muscari


Danke Dir, lieber Horst,

für diese wunderbare Geschichte, die mich in tiefes Nachdenken versetzt und wohl noch eine Weile verfolgen wird.


"Wir waren doch seit 60 Jahren noch nie getrennt ..... "

Andrea



 


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