Forum Politik und Gesellschaft Diskussion historischer Ereignisse Der 80. Jahrestag der Reichspogromnacht

Diskussion historischer Ereignisse Der 80. Jahrestag der Reichspogromnacht

Federstrich
Federstrich
Mitglied

RE: Der 80. Jahrestag der Reichspogromnacht
geschrieben von Federstrich
als Antwort auf wandersmann vom 29.10.2018, 18:22:18
@ karl

Mir kommt in diesem Zusammenhang die Terminologie "Machtergreifung" zu einfach daher.
Das klingt so, als hätte Hitler mit seiner NSDAP den demokratisch gewählten Reichstag abgesetzt, und die Macht an sich gerissen. Per Putsch o.ä. Dass das nicht so war, weißt Du natürlich. Dass die NSDAP bereits zuvor stärkste Partei im Reichstag war, natürlich auch. Dass von Papen und auch Schleicher vom Reichspräsident Hindenburg ein- und wieder abgesetzt wurden, und Hitler von ihm anschließend als Reichskanzler eingesetzt wurde, auch. Alles sehr demokratische Vorgänge. Bei den anschließenden Wahlen im März 1933 errang die NSDAP rund 47% der Wählerstimmen, wodurch Hitler die demokratische Legitimation für das Kanzleramt erlangte. Dieser Vorgang wird negiert, wenn man von "Machtergreifung" spricht. Die Hälfte der Wähler wollte das so.
 

Wenn es dir in deinem Hinweis an @Karl offensichtlich um Genauigkeit der Formulierung und der Darstellung der Ereignisse geht, hätte ich folgende Anmerkung zu machen.

Du sprichst von "Terminologie", nennst aber nur den Terminus "Machtergreifung". Der ist in der Tat problembehaftet, weil er von den Nazis selber verwendet wurde. Mit ihm wollten sie suggerieren, dass Hitler und seine NSDAP ob ihrer schieren Stärke (parlamentarisch und außerparlamentarisch)  die Macht "ergriffen" hätten. Damit sollte das Zusammenspiel mit den Eliten der Weimarer Republik und deren Anteil am Machtwechsel verschleiert werden.
Wenn du die "sehr demokratischen Vorgänge" herausstellst, so muss in diesem Zusammenhang deutlich(er) werden, dass diese eben nur sehr punktuell demokratisch legitimiert waren, dass aber allein zwischen dem 31.1. und den Neuwahlen im März auch eine Reihe sehr undemokratischer Maßnahmen ergriffen worden, die verfassungswidrig waren.
Auch scheint das Wahlergebnis von rund 47% für die NSDAP zu hoch gegriffen. Gemeinhin wird von ca. 43% gesprochen, die nur zusammen mit den 8% der DNVP eine parlamentarische Mehrheit für die Hitler/Papen-Regierung ermöglichten.
Eigentlich interessant aber wäre, welche alternative Formulierung zu "Machtergreifung"  du Karl und generell vorgeschlagen hättest.
Federstrich
 
RE: Der 80. Jahrestag der Reichspogromnacht
geschrieben von ehemaliges Mitglied

die Tür ist leider schon wieder so weit auf, dass die Hasser mindestens einen Fuss darin haben ...

Antisemitismus ist nicht nur ein Problem der Juden. Antisemitismus gefährdet die Demokratie. Daher sind alle angesprochen, zu handeln. In dem Maße, wie eine Gesellschaft Antisemitismus bekämpft, zeigt sie, wie klar sie demokratisches Bewusstsein und demokratische Werte auslebt.

sammy
sammy
Mitglied

RE: Der 80. Jahrestag der Reichspogromnacht
geschrieben von sammy
als Antwort auf wandersmann vom 29.10.2018, 18:22:18
 Die Hälfte der Wähler wollte das so.
Und ganau DAS sollte man im Vergleich zu heute beachten, wenn man das "Wehret den Anfängen" bemüht: Die Gefahr kam schon damals auf demokratischen Füßen daher.
......an anderer Stelle habe ich bereits einmal erwähnt, wie "Schwachstellen der Demokratie"  sich zeigen, wenn nicht mehr ausschließlich für ein "gerechtes Miteinander" regiert wird.
Die "Instrumente des Handelns"  weitestgehend in anderen Händen liegen. Immer mehr wird für die "Gewinnmaximierung" die Moral geopfert.

sammy
 

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wandersmann
wandersmann
Mitglied

RE: Der 80. Jahrestag der Reichspogromnacht
geschrieben von wandersmann
als Antwort auf Federstrich vom 30.10.2018, 07:41:01

@ Federstrich

Die Verwendung des Terminus' (danke für die Korrektur) "Machtergreifung" erfolgt von der Geschichtsschreibung wohl doch eher auf einen Prozess bezogen, der von 30-33 reichte, und das bis dahin existierende System "umkrempelte", und wie Du schriebst, von den Nazis selbst hervorgebracht wurde. Ich wollte das oben eigentlich nur deshalb anmerken, da an einer "Machtergreifung" ja immer auch der Geruch des Staatsstreiches haftet, der ja damals nicht statt gefunden hat.
Vielleicht sollte man in diesem Bezug besser von einer "Demokratisch legitimierten Machtübergabe" sprechen. Denn "Machtergreifung" impliziert nämlich stets die aktive Rolle von Putschisten und die passive Rolle der Mehrheit des Volkes, das aber entspricht ja nicht den historischen Abläufen.
Die junge Demokratie der "Weimarer Republik" nährte genau jene Natter an ihrer Brust, die ihr später den Todesbiss versetzte. Wehret den Anfängen muss deshalb in erster Linie auf die Demokratie und deren Deformationen gerichtet sein, weil dies die Ursachen für diese Entwicklungen waren und auch heute wieder sind.
 

RE: Der 80. Jahrestag der Reichspogromnacht
geschrieben von ehemaliges Mitglied

..auch wenn es nicht unmittelbar mit der Reichspogromnacht zu tun hat ... so hat der Naziverbrecher , der in Pittsburg in einer Synagoge 11 Menschen beim Gebet erschoss den Zeitpunkt ja vielleicht deshalb gewählt ..
In dem Zusammenhang hat mich beim Entsetzen über diese frevelige Tat aber eine Nachricht aus Pittburg sehr berührt, ich las sie in der Times of Israel..

Eine Crowdfunding-Kampagne, die von zwei muslimischen Gruppen gegründet wurde, hat innerhalb weniger Tgae mehr als 125.000 US-Dollar für die Opfer der Pittsburgh Synagogue-Schüsse gesammelt, die elf Tote forderten, berichtet die Times of Israel.

Die muslimisch-amerikanischen gemeinnützigen Organisationen Celebrate Mercy und MPower Change standen hinter der Kampagne "Muslims Unite For Pittsburgh Synagogue". Sie stehen auch in Partnerschaft mit dem Islamic Centre of Pittsburgh.

Die Kampagne erreichte ihr ursprüngliches Ziel von $ 25.000 in sechs Stunden. Zum Zeitpunkt der Drucklegung wurden 129.908 $ des neuen Ziels von 150.000 $ gesammelt. Der Erlös wird bei Bestattungskosten und Arztrechnungen helfen.

"Wir möchten auf das Böse mit Gutem reagieren, wie unser Glaube uns lehrt, und eine kraftvolle Botschaft des Mitgefühls durch Taten senden", heißt es in der Kampagne. "Unser Prophet Muhammad, Friede sei mit ihm, sagte:, Erbarme dich denen auf der Erde, und der Eine im Himmel wird dir Gnade erweisen. 'Der Koran lehrt uns auch,' das Böse durch das, was besser ist, abzuwehren ' : 34). "

Mich hat das zutiefst berührt, zeigt es doch die wirkliche und menscliche Seite des Islams.

https://www.timesofisrael.com/
 

margit
margit
Administrator

RE: Der 80. Jahrestag der Reichspogromnacht
geschrieben von margit
als Antwort auf wandersmann vom 29.10.2018, 18:22:18

Zum Thema "Machtegreifung" , besser "intrigante Machtübernahme", einige historische Fakten:

Bei den Wahlen am 6. November 1932 waren die Nationalsozialisten die stärkste Fraktion mit 33,1 % der Stimmen, hatten aber zwei Millionen Wählerstimmen und 46 Sitze im Reichstag verloren.

Aus diesen Wahlen ergab sich keine regierungsfähige parlamentarische Mehrheit.

Papen und Schleicher entwickelten eigene Pläne zur Lösung der Krise. Papen nahm Kontakt mit Hitler auf und verständigte sich mit Hitler bei einer streng geheimen Zusammenkunft über ein Kabinett der "nationalen Konzentration" mit Hitler als Kanzler, der von einer Mehrheit konservativer Regierungsmitglieder "eingerahmt" werden sollte. Papen war der Ansicht, Hitler kontrollieren zu können und selbst die Macht zu übernehmen. Zitat von Papen: "In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht!“

Der greise Hindenburg, der die Berufung Hitlers zum Reichskanzler bereits zwei Mal abgelehnt hatte,  war das Hindernis für diesen Plan. Hindenburg wurde nun von verschiedenen Seiten (seinem Sohn Oskar, Papen, Kronprinz Wilhelm u.a.) bearbeitet. Dabei wurde auch vor Intrigen und Lügen nicht zurückgeschreckt. Den Ausschlag für sein Nachgeben gaben frei erfundene Putschgerüchte.

Unter Zeitdruck wurden am 30. Januar 1933 die zögernden Ministeranwärter zum Einlenken gebracht und Hindenburg ernannte Hitler zum Reichskanzler eines Präsidialkabinetts.

Bereits am 1. Februar löste der Reichspräsident auf Wunsch Hitlers den Reichtstag durch eine Notverordnung auf und setzte Reichstagsneuwahlen für den 5.März 1933 fest.

Eine Woche vor der Wahl brannte der Reichstag. Die "Reichstagsbrandverordnung" des Reichspräsidenten, mit der die meisten Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden,  nutzte die NS-Führung zu Gewaltmaßnahmen gegen Kommunisten und Sozialdemokraten. In Preußen wurden  8.000 - 10.000 Menschen verhaftet und in schnell hergerichteten Konzentrationslagern gefangen gehalten.

Die Wahlen am 5. März ergaben trotz Terror und heftiger Propanganda nur 43,9 % der Stimmen für die NSDAP. Mit der DNVP erreichte die Regierungskoalition 51,8 % und wäre durchaus regierungsfähig gewesen.

Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat (Ermächtigungsgesetz) vom 23. März 1933 brachte das endgültige Ende der Demokratie. Hierfür wurde die Zustimmung des Reichstags mit einem geschickten Winkelzug erreicht. Auf Antrag der NSDAP-Fraktion sollten abwesende Abgeordnete als anwesend gezählt werden, um die Beschlussfähigkeit des Reichtstags herzustellen. Dies betraf die besonders Abgeordneten der Kommunisten, die bereits verhaftet waren oder sich versteckt halten mussten.

In diesem Zusammenhang hielt der SPD-Abgeordnete Otto Wels mutig (es waren SA-Männer im Reichstag anwesend) die letzte freie Rede im Reichstag, in der er dringend davor warnte, diesem Gesetz zuzustimmen.

Alle 94 anwesenden SPD-Abgeordneten stimmten auch gegen das Gesetz. Seiner Warnung wurde leider von den anderen Parteien nicht gefolgt.


Margit


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Karl
Karl
Administrator

RE: Der 80. Jahrestag der Reichspogromnacht
geschrieben von Karl
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 30.10.2018, 11:38:37

Danke woschi,

es ist immer ermutigend zu lesen, dass es Initiativen gibt, die sich dem Frieden verschrieben haben auch über die Religionsgrenzen hinweg.

Beste Grüße

Karl

P.S.. Über unsere Veranstaltung in Mainz gibt es jetzt erste Pressemeldungen. Unter Medienecho auf http://reichspogromnacht.zum.de einsehbar.

RE: Der 80. Jahrestag der Reichspogromnacht
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 30.10.2018, 11:38:37

Hallo woschi, auf diese Nachricht wurde heute im WDR aufmerksam gemacht und dass es im Tagesspiegel einen Bericht darüber gibt. Den habe ich mal rausgesucht, hier kann man also alles auf Deutsch nachlesen: Wo Juden für Flüchtlinge und Muslime für Juden eintreten

RE: Der 80. Jahrestag der Reichspogromnacht
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 31.10.2018, 12:21:01

Danke marina -
wie wunderbar, dass die Nachricht nun auch hier angekommen ist. Viel zu oft verschwinden solche  News in den Redaktionen. Negatives zu berichten ist ja auch leider viel publikumswirksamer.

wandersmann
wandersmann
Mitglied

RE: Der 80. Jahrestag der Reichspogromnacht
geschrieben von wandersmann
als Antwort auf margit vom 31.10.2018, 00:28:57

@ margit

So, wie Du das beschrieben hast, haben wir das auch im Geschichts- und Staatsbürgerkundeunterricht erfahren, und eigentlich hatte ich gedacht, dies auch so hier wieder gegegben zu haben. Allerdings - auch damals war konsequent die Rede von "Machtergreifung", was bei mir eben diese Bilder des Staatsstreiches  hinterließ, die ich erst später korrigieren konnte. Ebenso unbekannt war mir damals der mutige Auftritt des SPD-Abgeordneten Otto Wels, dessen Rede ich erst vor einigen Jahren kennen lernte.
Aber eigentlich tangiert dies alles ja nur das eigentliche Thema, welches Dein Gatte hier angeschnitten hatte, und unter diesem Blickwinkel aber erinnere ich mich noch gut an die Stadtrundgänge im Rahmen der Jugendstunden in Vorbereitung unserer Jugendweihe, die wir mit unserer Klassenlehrerin Frau Reichpietsch, einer Verwandten des im Zuge des Kieler Matrosenaufstandes ermordeten Max Reichpietsch, durchführten, die uns an den restaurierten Ruinen und erhaltenen Fragmenten derjenigen Synagogen entlang führte, die im Anschluss an die "Reichspogromnacht" zerstört wurden.

 


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