Forum Politik und Gesellschaft Innenpolitik Soll eine 96-jährige noch vor Gericht gestellt/verurteilt werden?

Innenpolitik Soll eine 96-jährige noch vor Gericht gestellt/verurteilt werden?

Michiko
Michiko
Mitglied

RE: Soll eine 96-jährige noch vor Gericht gestellt/verurteilt werden?
geschrieben von Michiko
als Antwort auf Bias vom 17.10.2021, 16:34:55
Anfänge lassen sich am ehesten daran erkennen, meine ich, Anderl, dass umrissenen Personengruppen unangenehme Eigenschaften, Absonderlichkeiten und Boshaftigkeit zugeordnet wird.
Heute so gut wie damals im "3. Reich".

Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: «Ich bin der Faschismus» Nein, er wird sagen: «Ich bin der Antifaschismus»,  soll Ignazio Silone seinerzeit erklärt haben.
Nun gut, auch ein mediterraner Schriftsteller und Abgeordneter kann sich mal irren.
Bei dem, was sich in Deutschland derzeit tendenziell an Stimmungen und Einstellungen wie zu entfalten scheint, glaube ich, dass er recht hatte.
geschrieben von Bias
Von den rot lackierten Faschisten sprach nicht nur Silone, eine ganze Reihe Politiker nahm diese Worte in den Mund. Als erster in D wohl Kurt Schumacher, 1946 bis 1952 Parteivorsitzender der SPD sowie von 1949 bis 1952 Oppositionsführer im Deutschen Bundestag. Über Linksfaschismus kann man hier nachlesen:
Linksfaschismus
Und irgendwie bekommt das Wort vom "Antifaschistischen Schutzwall" noch eine besondere Bedeutung.
Edita
Edita
Mitglied

RE: Soll eine 96-jährige noch vor Gericht gestellt/verurteilt werden?
geschrieben von Edita
als Antwort auf Bias vom 17.10.2021, 16:34:55

Im Nazi-Deutschland gab es keinen Faschismus, es gab den Nationalsozialismus, das ist ein himmelweiter Unterschied, der italienische Faschismus, der auch in andere Länder überschwappte, aber nicht nach Deutschlabd, wollte letztlich an vielen Traditionen  festhalten und lediglich einen nach Mussolinis Vorstellungen stärkeren Staat schaffen, während Hitler und seine Schergen aber die meisten alten Institutionen abschafften, um deren Aufgabenbereiche in ihren Gleichschaltungsapperat integrieren zu können und so ungestört ihrem Menschenmassen-Vernichtungswahn frönen zu können!

Edita

schorsch
schorsch
Mitglied

RE: Soll eine 96-jährige noch vor Gericht gestellt/verurteilt werden?
geschrieben von schorsch
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 17.10.2021, 15:13:49
.....
Wer AfD wählt weil ihm die Politik hier nicht gefällt kann auch in der Kneipe aus dem Klo trinken, weil ihm das Bier dort nicht schmeckt.
Schmunzel!

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aixois
aixois
Mitglied

RE: Soll eine 96-jährige noch vor Gericht gestellt/verurteilt werden?
geschrieben von aixois
als Antwort auf Bandagenanderl vom 17.10.2021, 13:32:04

Was hätte ich in der gleichen Situation getan? Was wäre ich bereit gewesen, zu tun

Ja Anderl,  diese Frage muss sich stellen, jeder für sich.

Nicht für die Vergangenheit, sondern für heute und im Wissen um die Vergangenheit und um die Antworten damals. Was würde ich heute tun, wenn sie einem Flüchtling ins Gesicht spucken, einen am Boden Liegenden weiter treten, wenn, wenn ... es gibt auch heute viele Situationen, wo einfach weggeschaut wird.

Alles andere führt nicht weiter, "alles, was wäre wenn ...". Sowenig sich die von damals ins Heute beamen können, können wir uns an deren Stelle zurück-beamen.

Alles andere ist eine "catch- 22" (no win  Situation, weil keine Antwort richtig ist) Frage :
sagt einer ja, dann heisst es , du hast gut reden, du warst ja nicht in der Situation damals, , du bist überheblich, besserwisserisch
sagt einer nein, dann heisst es, siehst du ,du bist auch nicht besser als die damals, wie kannst du also  ihr Verhalten also kritisieren ?

Außerdem sind die Fragen begleitet von der Unterstellung, dass es stimmt, dass ein 'Nicht-Mitmachen'  lebensgefährlich war, dass man in den Untergrund hätte gehen müssen, Hab  und Gut, Familie  zurücklassen müssen. Was ja nun nicht stimmt, es wurde nicht erwartet, dass jeder zum Elsner wird, ebenso wenig wie einer sofort erschossen wurde, wenn er es nicht über sich erbrachte, einen anderen zu erschiessen.
Musste Elsner am 9. April, wenige Tage vor der Ankunft der Amis, ermordet werden, entgegen der Anweisung, damit zu warten bis zum nächsten Fliegerangriff, um dann seine Ermordung zu fingieren ?  Dem KZ Boss wäre nichts passiert.

Ich weiss auch sehr wohl um das Dilemma, in dem damals nicht wenige Rechtschaffene steckten.
Meinen Eltern wurde in kleingeistiger,  aber großklappiger 150 % NSDAP Anwalt ind ie Mietwohnung eingewiesen. Er versuchte mit allen Mitteln, sich das 'Hab und Gut' meiner Eltern unter den Nagel zu reissen. Jedes Wort, das meine Eltern äußerten, wurden mitgeschrieben und so verdreeht, dass es mehrfach Vorladungen auf die Gestapozentrale gab. Wo meine Mutter immer mit meinen kleinen Geschwistern (und ihrem 'Mutterkreuz') hinging, mein Vater nur einmal, worauf sein Arbeitgeber sich 'höheren Orts' beschwerte wegen der Störung der Produktion kriegswichtiger Rüstungsausstattungen bei der er eine wichtige Funktion zu erfüllen hatte und er danach 'Dispens' bei erneuten Beschwerden bekam. Alles klein - klein verursacht durch narzistische 'Kleine Gerne Große', die meinten, von ihrem 'Rädchen' drehen persönliche Vorteile zu erzielen.

Es gab auch damals durchaus viele Möglichkeiten der 'civil dis-obedience', des zivilen Ungehorsams.
Aber man wollte doch 'gehorchen', und wenn man nicht so recht wollte, zweifelte, dann tat man es doch, weil man es,  aus einem persönlichen Imperativ heraus,  musste, weil man so erzogen war.

Ich hätte schon mal nicht die NSDAP gewählt. Wäre nicht in die Partei gegangen. Wäre nicht zu Massenveranstaltungen gegangen und auch nicht zu  sonstigen NSDAP Festchen. Hätte nicht jedesmal die Fahne aufgehängt. ... Es gab viele kleine Möglichkeiten, zum Ausdruck zu bringen, dass man nicht begeistert ist, ohne gleich an die Wand gestellt zu werden. Gerade Mütter mussten kaum befürchten, dass man ihnen die Kinder wegnahm.

Womit ich bei der Frage wäre, woran es liegt, dass die überwiegende Mehrheit Hoffnung in ein neues Reich, ein neues Deutschland gesetzt hatte und deshalb, selbst noch im Krieg, nicht gegen das Regime war, sondern gerne die von der raffiniert-professionellen  Goebbels Propaganda angebotenen Lügen glaubte (glauben wollte; Wunderwaffe, Sabotage, Volksturm ...).
Ein Land, wo alles seine Ordnung hatte, wo jeder wusste wo oben und unten ist, wo jeder seine Aufgabe im Interesse des großen, positiv besetzten Narrativs zu erfüllen hatte.

Und zur Ordnung gehört nun mal Gehorsam, Pflichterfüllung, Achtung vor Autoritäten, Brav-Sein, Nicht-Widersprechen usw.

Warum wohl haben die Sozialdemokraten sich gegen die Revolutionäre (Matrosenaufstand und danach) gewandt, ihren Polizeiminister Noske gegen die eigenen Leute in Stellung gebracht, sich lieber mit den alten reaktionären Militär eingelassen, ...
Jedes Land wäre/ist stolz auf seine Revolutionen,die ungerechte Herrscher vom Thron stürzten, nicht so die Deutschen, denn so was (Revolution) macht man nicht. Ohne Bahnsteigkarte begleitet man niemand zum Zug ... Warum wohl war der Sturz der Monarchie nie einen Feiertag wert ?

Deshalb sollte die Frage eher lauten: was hältst du vom Kadavergehorsam  ? Lieber Untergehen als Dazwischengehen, lieber in der Masse mitmachen als auffallen ?
Was Hitler von seinem gehorsamen, aber schwachen Land hielt, seinem Lebensrecht nach einem verlorenen Krieg, ist ja hinlänglich bekannt und damit auch die Sinnhaftigkeit 'unbedingten' Gehorsams.

Bezeichnend ist auch, dass das GG Widerstandsrecht (Art20.4) erst nach den Notstandsgesetzen, 1968, fast zwanzig Jahre nach der verfassungsgebenden Versammlung in das Grundgesetz eingefügt wurde. Damals 1949 hatte man noch Angst, die Deutschen würden so ein Recht als Aufforderung zum Aufstand, zum 'Landfriedensbruch' verstehen.

So gesehen, sind wir aber doch schon einige Meilen fortschrittlicher geworden. Obschon für viele auch heute noch 'Ordnung' mindestens das halbe Leben ist und die alles,  was dieser alten Vorstellung von 'Ordnung' widerspricht, ablehnen oder gar bekämpfen.

aixois
PS: einen Dank an die Lese-Geduldigen
 
Bandagenanderl
Bandagenanderl
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RE: Soll eine 96-jährige noch vor Gericht gestellt/verurteilt werden?
geschrieben von Bandagenanderl
als Antwort auf Bias vom 17.10.2021, 16:55:41

Wir sollten uns nicht vom warmen Sofa aus zu freiheitsliebende Helden emporjubeln und uns andererseits auch nicht schuldig fühlen - was wir vielleicht unserer späten Geburt zu verdanken haben. Nur schadet es nichts, unser eigenes Tun etwas zu erforschen und aus dem Wissen um die Vergangenheit und unserem eigenen Verhalten heraus Aufklärung zu betreiben. Aufklärung und nicht Erinnerungskulturpflege zur eigenen Beruhigung.
Weil ich zu jung bin, war ich während des NS Regimes nicht dabei und habe es auch nicht geduldet, darum bin ich, genauso wie meine Kinder und Enkel unschuldig an den Vorgängen. Nur bewusst müssen wir uns schon sein, was damals passiert ist und dieses Bewusstsein sollten wir den nächsten Generationen mitgeben. 
 Und sie müssen die Alarmglocken schrillen hören, wenn neue Retter der Nation auf den Plan treten.  
Anderl  

Bandagenanderl
Bandagenanderl
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RE: Soll eine 96-jährige noch vor Gericht gestellt/verurteilt werden?
geschrieben von Bandagenanderl
als Antwort auf aixois vom 17.10.2021, 17:13:11

Du hast ausführlich die Situation von damals geschildert und dafür darf ich mich bedanken. Ich habe nicht geduldig sondern interessiert gelesen. 
Anderl


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Der-Waldler
Der-Waldler
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RE: Soll eine 96-jährige noch vor Gericht gestellt/verurteilt werden?
geschrieben von Der-Waldler
als Antwort auf aixois vom 17.10.2021, 17:13:11

Danke.

Bias
Bias
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RE: Soll eine 96-jährige noch vor Gericht gestellt/verurteilt werden?
geschrieben von Bias
als Antwort auf Bandagenanderl vom 17.10.2021, 17:23:50
Wir sollten uns nicht vom warmen Sofa aus zu freiheitsliebende Helden emporjubeln und uns andererseits auch nicht schuldig fühlen - was wir vielleicht unserer späten Geburt zu verdanken haben. Nur schadet es nichts, unser eigenes Tun etwas zu erforschen und aus dem Wissen um die Vergangenheit und unserem eigenen Verhalten heraus Aufklärung zu betreiben. Aufklärung und nicht Erinnerungskulturpflege zur eigenen Beruhigung.
Weil ich zu jung bin, war ich während des NS Regimes nicht dabei und habe es auch nicht geduldet, darum bin ich, genauso wie meine Kinder und Enkel unschuldig an den Vorgängen. Nur bewusst müssen wir uns schon sein, was damals passiert ist und dieses Bewusstsein sollten wir den nächsten Generationen mitgeben. 
 Und sie müssen die Alarmglocken schrillen hören, wenn neue Retter der Nation auf den Plan treten.  
geschrieben von Bandagenanderl
Im Grunde hat eigentlich jede und jeder der SchreiberInnen hier sein Selbstbild und jenes Bild, welches sie/er sich von anderen macht, sattsam vermittelt.

Hannah Arendt hat anlässlich einer Laudatio bei der Verleihung des Friedenspreises an Dr. Karl Theodor Jaspers 1958 u.a. sinngemäß gemeint, dass bei den meisten Leuten der Meinungsbildungsprozess im Alter von 50 Jahren abgeschlossen sei.
Davon abweichende Äußerungen empfänden sie von daher regelmäßig als Bestätigung ihrer eigenen Ansichten.
Das erinnert an das System der Psychoanalyse, von der Karl Kraus gemeint haben soll, sie sei die Krankheit, für deren Therapie sie sich ausgibt.
Ich denke - an beiden Überlegungen ist etwas dran.
pschroed
pschroed
Mitglied

RE: Soll eine 96-jährige noch vor Gericht gestellt/verurteilt werden?
geschrieben von pschroed
als Antwort auf aixois vom 17.10.2021, 17:13:11
Auch von mir ein Dankeschön Aixois , als 1952 geborener sind es lehrreiche Sätze für mich.
Wie kann man nur heute noch solch eine Ideologie, in der Entstehung für gut halten.   Phil.
Michiko
Michiko
Mitglied

RE: Soll eine 96-jährige noch vor Gericht gestellt/verurteilt werden?
geschrieben von Michiko
als Antwort auf Bandagenanderl vom 17.10.2021, 17:23:50
Wir sollten uns nicht vom warmen Sofa aus zu freiheitsliebende Helden emporjubeln und uns andererseits auch nicht schuldig fühlen - was wir vielleicht unserer späten Geburt zu verdanken haben .....
(...)  Aufklärung und nicht Erinnerungskulturpflege zur eigenen Beruhigung.
Weil ich zu jung bin, war ich während des NS Regimes nicht dabei und habe es auch nicht geduldet, darum bin ich, genauso wie meine Kinder und Enkel unschuldig an den Vorgängen. Nur bewusst müssen wir uns schon sein, was damals passiert ist und dieses Bewusstsein sollten wir den nächsten Generationen mitgeben. 
 Und sie müssen die Alarmglocken schrillen hören, wenn neue Retter der Nation auf den Plan treten.  
Anderl  
Ja, auf dem warmen Sofa läßt sich's trefflich schreiben....... Ich bin schon für Erinnerungskulturpflege, deshalb gibt es eine komplette Landschaft der Gedenkstättenkultur und der Besuch selbiger sollte für Schüler Pflicht sein. Wie willst Du sonst Deinen Kindern und Enkeln deutlich machen, was in Deutschland zur NS-Zeit geschah? Literatur geht auch, aber Besuch einer Gedenkstätte oder ehem. KZ ist nachdrücklicher. Ich empfehle allen Berlinbesuchern und Interessierten am Thema die Topographie des Terrors. Auf dem Gelände der Topographie, neben dem Gropius Bau und unweit des Potsdamer Platzes, befanden sich von 1933 bis 1945 die Zentralen des nationalsozialistischen Terrors: die Geheime Staatspolizei (mit eigenem Gefängnis), die SS-Führung, der Sicherheitsdienst der SS (SD) und das Reichssicherheitshauptamt.
Von diesem Ort aus wurde die Verfolgung und Vernichtung der politischen Gegner des Nationalsozialismus im In- und Ausland gelenkt und der Völkermord an den europäischen Juden und an den Sinti und Roma organisiert.
Die Ausstellung im 2010 eröffneten Dokumentationszentrum dokumentiert die Geschichte des Ortes, der in unmittelbarer Nähe des NS-Regierungsviertels angesiedelten Terrorinstitutionen und der von ihnen europaweit verübten Verbrechen. Ergänzt wird sie durch 15 Informationsstationen auf dem Gelände und durch eine Ausstellung, die vom Frühjahr bis in den Herbst entlang der freigelegten Kellermauerreste an der Niederkirchnerstraße zu sehen ist. 

Vom 22. Mai bis heute war die Sonderausstellung Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht zu sehen. Eine Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Frankfurt.
Fritz Bauer gehört zu den bedeutendsten und juristisch einflussreichsten jüdischen Remigranten im Nachkriegsdeutschland. Gegen erhebliche Widerstände brachte er als Staatsanwalt wichtige Strafverfahren gegen NS-Täter auf den Weg, insbesondere den Frankfurter Auschwitz-Prozess. Einen entscheidenden Anteil hatte er auch an der Ergreifung Adolf Eichmanns, dem als ehemaligem Leiter des „Judenreferats“ im Reichssicherheitshauptamt in Israel der Prozess gemacht wurde.
Die Ausstellung dokumentiert mit vielen Originalobjekten sowie Ton- und Filmaufnahmen Fritz Bauers Lebensgeschichte im Spiegel der historischen Ereignisse. 1930 zum jüngsten Amtsrichter der Weimarer Republik ernannt, wurde er während der NS-Zeit als Jude und Sozialdemokrat verfolgt. Er floh aus Deutschland und kehrte 1949 zurück. Fritz Bauers Auffassung, ein Staatsanwalt habe in erster Linie die Menschenwürde zu schützen, gerade auch gegen staatliche Gewalt, revolutionierte das überkommene Bild dieses Amtes – ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Demokratisierung in der frühen Bundesrepublik.

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