Das Mädchen am Tor


Das Mädchen am Tor
(Das Mädchen am Tor (1889) Sir George Clausen)

Gestern war er wieder da. Oder war es vorgestern?
Wenn man wie ich so lange hier verweilt, kommt man doch mit der Zeit in Konflikt. Aber im Grunde genommen ist das doch auch egal. Die Hauptsache ist doch, er kommt wieder. Wenn das Warten doch nicht so schwer wäre. 
Angestrengt schaue ich zum Eingang hinüber. Noch immer nichts zu sehen. Ich bin traurig, wo bleibt er nur? Warum lässt er mich so lange warten, er muss doch meine Sehnsucht spüren.

Ich liebe ihn schon seit vielen Monaten, seit dem Tag im Januar, als er zum ersten Mal hier war. Ich erinnere mich gut an daran. Dort, nur ein paar Meter vor mir, sass er auf der Bank, sah mich lange an. Diese wunderschönen braunen Augen haben mich regelrecht verzaubert. Als er dann nach einer halben Stunde aufstand und wieder fortging, habe ich ihm lange nachgesehen. Ja, er drehte sich auch noch einmal um, sein letzter Blick gab mir zu verstehen, dass er mich auch mochte.

Seit dieser Zeit kam er mit wenigen Ausnahmen an jedem Sonnabend und setzte sich zu mir. Ich war an diesen Tagen völlig durcheinander, schon am Morgen wartete ich auf den Nachmittag. Einmal hörte ich, wie er flüsterte: »Du bist wunderschön!«
Ich hörte es, es gab mir regelrecht einen Stich ins Herz. Ich konnte ihm aber nicht antworten, es ging einfach nicht, so sehr ich es auch wünschte. Als er dann fortging, brach mir fast das Herz.
Ich liebe ihn so unendlich. Und er liebt mich, das fühle ich. Und doch kann es nicht sein, so sehr ich das von Herzen bedaure. Was gäbe ich doch alles dafür, wenn er mich mitnehmen könnte, in sein Haus!

Aber so bleibe ich für immer hier im Museum,
denn der Preis für dieses Gemälde ist für ihn unerschwinglich ...


©2015 by H.C.G.Lux

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Kommentare (9)

Humorus

Hallo Horst, meine ganze Hochachtung hast Du hier. Du hast aus diesem schönen Bild nun wirklich eine sehr ansprechende Geschichte geschrieben.

Lieber Gruß Klaus

Pan

Lieber Klaus,
manchmal findet auch ein blindes Huhn -
was wohl?
Nee, keine Flasche Doppelkorn - sondern etwas zum Nachdenken
meint mit ganz lieben Grüßen
Horst

Pan

 Danke, beim Betrachten eines Gemäldes befand ich mich plötzlich
mittendrin im Geschehen, voll innerer Ergriffenheit.
Schon seltsam, solch ein Ereignis - jedenfalls musste ich es notieren ...
liebe Grüße,
Horst

Syrdal


Lieber Horst,
einfach bezaubernd schön, diese von dir so feinsinnig-ergreifend in wohlgewählte Worte gefasste Geschichte...
 
Mit Dank grüßt
Syrdal

Rosi65

Mal eine etwas andere und auch modernere Variante der Zwei-Königskinder-Ballade.
Danke für diesen zartfühlenden Traum.

Rosi65

Manfred36

Ich wüsste eine Lösung: Er müsste drauf kommen, sein Malzeug ins Museum mitzunehmen oder ein wirklich gutes Foto von mir zu machen und das zu Hause umzusetzen. Ich bin überzeugt, dass damit auch das Interesse an mir im Museum nicht abnehmen würde. Und ich könnte vielleicht instinktiv erspüren, wie viel Platz in seiner Seele ich habe.

Tulpenbluete13

Eine wunderschön, melancholisch anmutende Geschichte lieber Pan,
man fühlt richtig die Sehnsucht die das Mädchen verspürt...
und ein schönes Bild...erinnert mich an die Zeit meiner Ur-großmutter..

Ich glaube in dieser Zeit gab es viel unerfüllte Liebe, denn sehr oft waren die materiellen Hintergründe wichtiger... Schade eigentlich..

Es gibt nichts erfüllenderes als die Sehnsucht nach Liebe zu spüren. Ob das heute auch noch so ist? Drückt man da die Sehnsucht per SMS aus?

Ich weiß es nicht
danke für diese hübsche Geschichte- sie hat mein Herz berührt.

Lieben Gruß
Angelika

Roxanna

Ein wunderschönes Gemälde, lieber Horst und die wunderschöne Geschichte dazu, das zaubert doch ein Lächeln ins Gesicht. Vielleicht ist die sich verzehrende unerfüllte Liebe/Sehnsucht doch die allerschönste Zwinkern.

Mit Dank und herzlichem Gruß

Brigitte

Pan

Mal etwas Älteres - aber dennoch nicht uninteressant, oder?
lg.Horst


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