Das seltsame Kreuz

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Das seltsame Kreuz

In Frankreich an der Meeresküste ertranken einmal in einem Jahr viele Fischer, die zum Fischen ausgefahren und vom Sturm überrascht worden waren. Tage später fand man die Toten, die zusammen mit den Trümmern ihrer Boote an den Strand gespült worden waren. Da war die Trauer groß in dem kleinen Fischerdorf, und neun Tage, so erzählt man sich, trugen die Menschen die Särge mit ihren lieben Toten zum Friedhof.
Eines Morgens nun entdeckten ein paar Kinder eine Gestalt, die auf den Meereswellen schaukelte. Sie liefen ins Dorf und holten ein paar Männer. Die fuhren hinaus aufs Meer und entdeckten eine Jesusfigur, die aus hartem Holz geschnitzt und bunt bemalt war. Es war ein altes Kreuz. Die Stirn Jesu war von der Dornenkrone umgeben, und die Hände und Füße waren durchbohrt. Aber die Kreuzesbalken fehlten und auch die Nägel. Die Männer brachten die Figur zum Pfarrer. Der sagte: „Ein schönes Kreuz.
Vor allem freue ich mich dass Jesus mit ausgebreiteten Armen zu unsgekommen ist, als wolle er uns sagen, wie sehr er Mitleid mit uns
Trauernden hier im Dorf hat.“
Sofort bestellte er beim Zimmermann ein schönes Kreuz aus gutem
Eichenholz. Als es fertig war, wurde die Jesusfigur mit ganz neuen Nägelndaran befestigt. Nun wurde das Kreuz in die Kirche getragen. Am nächstenMorgen war der Schreck groß. Die Jesusfigur hatte sich von dem neuenHolzbalken gelöst und lag auf dem Altar. Es wurde nun überlegt, ein schöneres Kreuz herstellen zu lassen.
Die armen Fisches des Dorfes spendeten Geld von dem Wenigen, was sie hatten. Endlich wurde dieJesusfigur auf einem wunderschönen Kreuz aus schwarzem Edelholzbefestigt.
Aber o Schreck – am nächsten Morgen lag der Körper wieder auf demAltar.
Nun wurde ein noch kostbareres Kreuz geplant und der Pfarrererhielt von überall her große Spenden, denn die Geschichte von demseltsamen Kreuz hatte sich rasch verbreitet in der ganzen Gegend.
So erhielt der Pfarrer viel Geld und sogar kostbaren Schmuck. Mit Hilfe allerdieser Kostbarkeiten arbeitete ein
Goldschmied in zwei Jahren ein kostbares Kreuz aus Gold und
Edelsteinen. In einer großen Feier wurde das Kreuz gesegnet.
Nun waren alle gespannt. Aber Jesus,, der nicht Gold und Edelsteine
gesucht hatte, war am nächsten Morgen nicht mehr am goldenen
Kreuzesbalken. Aus Angst, ihn weiterhin zu kränken, ließen die Fischer dieJesusfigur nun auf dem Altar liegen.
Aber dann geschah etwas. Ein Junge, der immer ein wenig verwirrt warund Dinge erzählte, die keinen Zusammenhang hatten, kam eines Tageszum Pfarrer gelaufen und rief: „Ich hab das richtige Kreuz gesehen, unten am Strand, das richtige Kreuz…“. Der Pfarrer dachte nicht wie sonst: „Achder arme Kerl, was träumt er sich wieder zurecht. Er hatte das Gefühl,gleich mitgehen zu müssen. Er nahm auch noch ein paar Männer mit.
Tatsächlich fanden sie dort auch zwei mit Nägeln behauene Bootsplanken,die das Meer lange mit sich herumgetragen hatte. Es waren Wrackstücke eines Bootes, die so zusammengefügt waren, dass sie ein Kreuz bildeten.
Die Männer lachten, dass der verwirrte Junge das Ganze für ein richtigesKreuz gehalten hatte. Aber der Pfarrer lachte
nicht und ließ die Planken indie Kirche tragen.
Dann hob er den Gekreuzigten vom Altar, legte iandiekreuzförmigen
Planken und nagelte die Figur mit den rostigen Nägeln fest.
Dann richtete er das Kreuz auf.
Und das Wunder geschah. Von diesem Kreuz, das aus dem Meer kam,löste sich der Körper nicht ab. So als wolle Jesus sagen: Ich will auf dem Holz bleiben, auf dem die Menschen gestorben sind und auf dem sie vor ihrem Tod nach mir gerufen haben.
Ich will bei den Unglücklichen sein.

Nach Anatole Franc

(per Zufall gefunden)