Eine merkwürdige Begegnung in Bombay


Ich befand mich auf dem Rückflug von Manila und sollte in Bombay einige Aufgaben für das Unternehmen erledigen, für das ich, etliche Jahre zurück, in Südostasien unterwegs war. Erst bei der Ankunft auf dem Flughafen hatte ich erfahren, dass der folgende Tag wegen der Unabhängigkeitsfeiern des Landes frei von Verpflichtungen sein würde. Was lag da näher, als diese Gelegenheit zu nutzen und die mir bis dahin unbekannte Millionenstadt ganz nach eigenen Plänen unter die Füße zu nehmen.

Um möglichst viele Eindrücke zu gewinnen, durchpflügte ich bereits am Abend vor dem Feiertag die Menschenmassen, die das Gewirr der Gassen nahe meinem Hotel Taj Mahal bevölkerten. Vom Verfall gezeichnete Häuser erschienen mir wie schlecht zusammengefügte Theaterkulissen. In einem der düsteren Quartiere zapften schmächtige, in verschlissene Saris gehüllte Mädchen unbestimmbaren Alters aus einem Hydranten Wasser in Eimer und Töpfe, hievten sich die schweren Gefäße auf die Köpfe und hasteten, angestrengt balancierend, zu ihren Unterkünften. Diese Bilder hinter mir lassend, erreichte ich eine breite Straße, an der Händler Lederwaren, bunte Textilien und billigen Schmuck anboten. Zwischen überfüllten Bussen hindurch überquerte ich die Fahrbahn, um genauer zu inspizieren, was gegenüber meine Neugier erregte: eine hohe Mauer entlang der Straße, durchbrochen von einem imposanten Tor.

Das Tor stand offen, ich durchschritt es und sah mich wenig später, trotz der hereinbrechenden Dunkelheit, unvermittelt in eine andere Welt versetzt. Hinter mir quirrliges Menschengetümmel, hingegen dort, wo ich mich jetzt befand ein Ort nahezu vollkommener Stille. Auszumachen war ein weiter leerer Platz, links und rechts gesäumt von mehrstöckigen Gebäuden, deren Fenster zu einem guten Teil bereits erleuchtet waren. Im Hintergrund des Platzes, diametral dem Torbau gegenüber, zeichnete sich gegen den Abendhimmel eine tempelförmige Silhouette ab. Wo befand ich mich? Aber es zeigte sich kein Mensch, der mich hätte aufklären können. So begnügte ich mich mit dem Augenschein und verließ die malerische Szenerie wieder, allerdings mit der Absicht, bei Tageslicht hier noch einmal aufzukreuzen. Ich würde ja Zeit dazu haben.

Es machte keine besondere Mühe, am nächsten Tag das Tor wiederzufinden. Noch einmal passierte ich es und sah erneut das längsgestreckte Areal vor mir, diesmal aber überstrahlt von der Sonne eines tropischen Nachmittags. Hatte gestern das abendliche Zwielicht dort eine geradezu zauberhafte, ja geheimnisvolle Atmosphäre geschaffen, erschien der Platz mir jetzt eher kahl und nüchtern, desgleichen die Etagenhäuser mit ihrem gelb-verblichenen Verputz.

Langsam schlenderte ich auf dem Rundweg, der den Platz von den Häusern trennte, in Richtung des überkuppelten Gebäudes, das ich schon während meines ersten Besuches für einen Tempel gehalten hatte. Ich fotografierte es und wollte, jetzt die freie Fläche überquerend, wieder zur Pforte zurückkehren. Da vernahm ich einen Laut. Er hörte sich an wie ein leiser Ruf aus unbestimmter Richtung. Mein suchender Blick blieb an der Gestalt eines älteren Mannes haften, der, angetan mit der landesüblichen weißen Hemdjacke, aus einer der Parterrewohnungen zu mir herüberschaute und, wie ich zu erkennen glaubte, mich zu sich ans offene Fenster heranwinkte. Hatte ich irgendein Verbot gebrochen, vielleicht unerlaubt fotografiert oder die Wiese vorschriftswidrig betreten? Gehorsam folgte ich dem Zeichen, aber auch erleichtert, endlich einem Menschen zu begegnen.

Als ich mich dem Fenster genähert hatte, fragte mich der Alte nur: "Aus Amerika?". Nein, Amerikaner sei ich nicht und klärte ihn auf, dass ich aus Deutschland käme. Oh, aus Deutschland! Hätte ich denn etwas dagegen, bei ihm einzutreten. Überhaupt nicht, antwortete ich ihm, woraufhin er mir in der Haustür entgegenkam und mich in seine Wohnung begleitete, deren Einrichtung durchaus europäisch anmutete. Seine Frau halte Mittagsschlaf, weshalb er mir nichts anderes anbieten könne als das, wobei mein Gastgeber auf eine halbgeleerte Weinbrandflasche und eine offene Keksdose wies. Ich dankte und setzte mich auf ein schon reichlich abgenutztes Sofa.

Wisse ich denn, wo ich mich befinde? Nein, aber gerade das zu erforschen, sei ich bereits zum zweitenmal hierher gekommen. Diese Siedlung, wurde mir nun erklärt, sei ein Baug, eine Wohnanlage für Parsen, einer Religionsgemeinschaft, deren Vorfahren vor vielen Jahrhunderten aus Persien kommend, in Indien eingewandert seien. Vor allem anderen würden Parsen das Feuer, das Wasser und die Erde verehren. Und, fiel mir nun selbst dazu ein, statt ihre Toten zu begraben, werfen sie die auf hohen Türmen Geiern zum Fraß vor. Darüber hätte ich einmal etwas gelesen und einen Film gesehen mit dem Titel "Türme des Schweigens". Richtig, bestätigte der Alte, das mit den Türmen geschehe, um die Erde nicht mit einer Leiche zu entweihen, unterbrach dann aber seine Religionslektion mit einer Frage, die mit dem vorausgegangenen Gespräch nicht das Geringsten mehr verband. Die Frage lautete: "Wenn Sie aus Deutschland sind, kennen Sie vielleicht Kelsterbach?".

Hatte ich richtig verstanden? Ausgerechnet Kelsterbach! Immerhin wohnte ich just damals in unmittelbarer Nachbarschaft jenes zwischen Frankfurt und Mainz gelegenen Maindorfes. Sein Sohn, erfuhr ich jetzt, habe zwei Jahre in Kelsterbach verbracht, dort Fußball gespielt und gute Freunde gewonnen. Vielleicht seien mir davon ja einige bekannt. Bestimmt nicht, wehrte ich ab, verschmähte aber nicht den zweiten Schnaps und einen dritten. Da betrat eine grauhaarige, hochgewachsene Dame, die Hausherrin offensichtlich, von einem der hinteren Räume her das Zimmer.

Mißtrauisch musterte sie den Fremden, den ihr der Gatte da ins Haus geschleppt hat. Ihre reservierte Haltung verflüchtigte sich jedoch, sobald auch sie über mein Herkunftsland aufgeklärt war. Schnell stand Tee auf dem Tisch, und noch einmal vernahm ich, jetzt aus dem Munde der Mutter, die Geschichte des kelsterbach-erfahrenen Sohnes. Danach verließ sie das Zimmer wieder, kehrte aber wenig später mit einem dicken Fotoalbum zurück. Höflich, wie sich das einem Gast geziemt, folgte ich den Erklärungen zu jeder einzelnen Aufnahme, auf denen, mehr schlecht als recht, prächtige Menschen abgelichtet waren.

Dabei streifte, eher flüchtig, mein Blick ein ganz besonders dürftiges Amateurbildchen - und verfing sich darin. Ich beugte mich fast reflektorisch näher hin. Was hatte meine Aufmerksamkeit erregt? Die beiden Männer vor dem Eingang eines Hauses deutschen Stils? Nein, wirklich ins Auge gestochen hat mich ein anderer Inhalt des Fotos: der Teil seines Hintergrundes, der sich als breiter, grüner und fotografisch etwas unscharfer Streifen gegen den fahlen Himmel abhob. Einer der Abgebildeten sei ihr Sohn, erklärte sie mir stolz, der andere ein befreundeter Landsmann von ihm. In Deutschland, fügte sie noch hinzu. Ja, ja, antwortete ich etwas gedankenabwesend. Wie hätte sie auch wissen sollen, dass weder Sohn noch Freund mich sonderlich fesselten. Vielmehr hatte mich, allein ausgelöst von dem grünen Bildanteil, eine Art von Eingebung gepackt, eine Eingebung, die mir sagte: das ist doch der Wettenberg, ein Bergrücken, der sich entlang meines Heimatdorfes Krofdorf erstreckt. Zwar entgegnete mir sogleich die Stimme der Vernunft, dass eine solche Entdeckung allen, aber auch allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit widersprechen würde. Trotz diesem inneren Einwand bat ich darum, das Bild aus seinen vier Klarsichtecken zu lösen. Und was fand sich auf seiner Rückseite? Eine englische Beschriftung des Inhaltes, das Bild sei in Gießen aufgenommen. Sogar das Datum fehlte nicht.

War dieser Satz nicht fast der Beweis, die Bestätigung meiner Eingebung, ein Abbild des Wettenbergs vor mir zu haben? Indes war mir wohl bewußt, dass das letzte Wort zur Aufklärung des Sachverhaltes allein dem Abgelichteten selbst zustand. Der aber ließ sich immer noch nicht blicken. Statt dessen begann die Wohnung sich mit Gästen zu bevölkern, so dass ich es vorzog, mich zu verabschieden, musste aber Name und Adresse hinterlassen und kehrte zurück ins Hotel. Um mich abzulenken, verfolgte ich vom Fenster herab den abebbenden Festtagstrubel auf dem Ozean und auf dem Platz, den das "Tor von Indien", ein mächtiges Bauwerk aus englischer Kolonialzeit, zur See hin begrenzt. Dann verließ ich das Zimmer. Es war Zeit für einen Abendimbiß.

Ich befand mich noch auf der Galerie, die alle Räume des Stockwerkes entlang einem Innenhof miteinander verband, als ein Telefon zu läuten begann. Kam das nicht aus meinem Zimmer? Vorsichtshalber ging ich noch einmal zurück. Tatsächlich klingelte mein Telefon. Ich hob ab. Da sei jemand an der Reception, der mich sprechen wolle. Hallo? Die Stimme eines Mannes nannte meinen Namen und fragte, ob ich heute Abend Zeit habe. Wenn ja, so wolle er mich zu einer Feier mitnehmen. Fast überflüssig zu sagen, daß am anderen Ende des Telefons jener Parse sprach, auf den ich am Nachmittag vergeblich gewartet hatte. Er möge sich, beschied ich ihn, einen Augenblick gedulden, ich käme gleich.

In der Hotellobby erwartete mich ein junger Mensch von angenehmen Äußeren, festlich gewandet in einen Smoking, das Hemd darunter mit Rüschen drapiert. "Mein Name ist Roointan" stellte er sich vor, "man nennt mich aber Rony". Zeit, mir seine Pläne darzulegen, ließ ich Rony jedoch vorerst nicht. Zunächst musste Klarheit um das mysteriöse Foto geschaffen werden, das ich am Nachmittag entdeckt hatte. Also wollte ich wissen: "Wo, genau, entstand die Aufnahme, die ich im Album Ihrer Mutter fand?"

Und nun erwies es sich: Kein Trugbild hatte mich am Nachmittag im Parsenhaus verwirrt, keine Fata Morgana getäuscht. Roointan hatte während seines Deutschlandaufenthalts tatsächlich einen Ausflug in mein Heimatdorf unternommen, um sich hier mit einem Freund zu treffen. Dort, mit dem Wettenberg im Rücken, knipste ihn dann jemand zusammen mit dem Landsmann zur Erinnerung an den Besuch. Erst nach diesem "Geständnis" gelang es ihm, mir etwas verlegen zu eröffnen, dass er leider kein Auto besitze, aber doch wenigstens ein Motorrad. Wir bestiegen den Feuerstuhl, und ich krallte mich in die Rockschöße meines Fahrers. Eine gute halbe Stunde lang huschte das nächtliche Bombay an mir vorbei, ehe wir unser Ziel erreichten, eine Gesellschaft fröhlicher Menschen, die unter freiem Himmel die Taufe eines halbwüchsigen Parsenjungen feierten. Hier endlich kam mein Magen auch zu seinem Recht.

Noch heute überkommen mich Augenblicke, die mich an der Wirklichkeit dessen zweifeln lassen, was mir an jenem Tag in Bombay widerfahren war. Ganz und gar grundlos allerdings. Denn kaum war ich von meiner Reise zurückgekehrt, ergab eine Nachfrage, dass in Krofdorf in der Tat ein Inder lebe. Eine Begegnung mit ihm wurde arrangiert, und vor mir stand schließlich leibhaftig jener zweite Mann des Fotos mit der verräterischen Perspektive hin zum Wettenberg.

Meine ganz und gar unwahrscheinliche Entdeckung, ein Bildchen meines Heimatdorfes versteckt im Album einer Parsenfamilie in Bombay, ich hatte sie also wirklich nicht geträumt.

Siegfried Träger




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Kommentare (6)

floravonbistram ich überfliege sie nicht, sondern erlebe mit. Wie schön es doch ist, so ein Erlebnis zu haben
Flo
samti las ich hier und wurde gefesselt. Deine Erlebnisse beschreibst du wie einen spannenden Film. Unmöglich nicht den Ausgang wissen zu wollen. Gruß Samti
liwo63 ...heißt es oft.....
Auch ich hatte so ein merkwürdiges Treffen.
In Südindien, in einem Ashram wo 10 000 Menschen zusammenkamen.
Eine lange Schlange farbenfroh gekleideter Frauen standen vor der Essensausgabe der Kantine und schnatterten eifrig miteinander. Eine hübsche Inderin, die hinter mir stand meinte auf Englisch.....du kommst aber sicher von weit her??
Meine Frage lautete ...ja und woher kommst Du ???
Ich komme aus einer kleinen Stadt in Deutschland, die du sicher nicht kennst.....Lippstadt!!!!!
Ich fiel ihr um den Hals.....denn ich wohne in Lippstadt.
Natürlich haben wir heute noch Kontakt.
nasti

Dein Bericht aus Indien ist besser als eine Novelle. Ich war noch nie in Bombay. Trotzdem habe ich fast magische Erlebnisse damit. Ich träumte etwas gaaanz besonderes, / aus der Himmel fallende Fische/, der folgenden Tag kam ein Inder aus Bombey in mein Atelier, wo er entdeckte ein Bild mit meiner Mutter. Kurz danach kam seine Frau, ich dachte das ich kippe um, Sie sah genauso aus wie meine Mutter in junge Jahre auf dem Bild. Ich hatte nicht vor das Bild verkaufen, Stunde lang dauerte die Verhandlung per Telefon mit englische Sprache /ich kann nicht englisch/
Am Ende habe ich nachgegeben und Ihn das Bild verkauft. Meine Mutter sehnte sich ewig nach Indien, jetzt ist Sie dort an Bild , in Bombay.


Nasti
Karl Lieber Siegfried,


wir sind oft so von statistischen Wahrscheinlichkeiten benebelt, dass wir das Unwahrscheinliche nicht mehr glauben, obwohl unsere eigene Existenz beweist, das Unwahrscheinliche ist nicht unmöglich. Ich denke manchmal darüber nach, was wäre gewesen, wenn mein Ururururgroßvater nicht die Ururururgroßmutter getroffen hätte etc. Würde dann nicht ein anderer als ich diese Frage stellen?

Genau überlegt ist rückblickend jedoch jede Wahrscheinlichkeitsbetrachtung methodisch unsinnig. Zurück liegen nur Fakten, Wahrscheinlichkeiten beziehen sich auf die Zukunft, sie sind Vorhersagen.
elise52 die Welt ist klein sage ich immer, was deine schöne Erzählung wieder beweist.


Liebe Grüße Gerda

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