Wir schrieben das Jahr 1977. Seit einiger Zeit nannten wir einen Trabant unser Eigen.

Der Betrieb, in dem ich damals arbeitete, bot einen 14-tägigen Aufenthalt in einem Wohnanhänger auf einem Campingplatz in der damaligen ČSSR an. Das hörte sich gut an und so planten wir eine Reise in den Süden.

Die Tschechoslowakei war ein beliebtes Urlaubsziel für DDR-Bürger, weil man visafrei über die Grenze kam, die Versorgung sehr gut war und es eine wesentlich bessere Gaststättenkultur gab als in der DDR. Wenn man allerdings darauf angewiesen war, seinen Aufenthalt mit der Menge der legal eingetauschten Kronen zu bezahlen, reichte das Geld meistens nicht aus. Deshalb fuhren Menschen aus der DDR in die ČSSR zu Verwandten (sofern vorhanden) oder nahmen Angebote ihrer Betriebe wahr (sofern vorhanden).

Wir hatten den Kindern schon lange vorher von dem geplanten Urlaub erzählt. Meine Frau fragte sie einmal, ob sie schon Reisefieber hätten, aber sie wussten gar nicht, was das war. Als dann aber unser 4-Jähriger einmal eine Erkältung hatte, sagte er: „Mutti, ich glaube, jetzt habe ich Reisehusten.“ Seit dieser Zeit hat man in unserer Familie immer Reisehusten, wenn man vor einer Reise aufgeregt ist.

Ein Kollege, der vor mir in dem Campingwagen Urlaub gemacht hatte, erzählte mir, dass der dortige Platzwart sich Vogelfutter aus der DDR wünsche, weil es das bei ihm nicht gebe.
„Kein Problem“, dachte ich. Warum sollte man dem Menschen keine Freude machen?  Also ging ich mit meinem großen Sohn zur Zoohandlung an der Ecke und kaufte eine große Tüte Vogelfutter.
„Doch ein Problem!“, sagte mein Schwiegervater, der ein außerordentlich korrekter Mensch war. Er zeigte mir das Zollgesetz der DDR, worin stand, dass die Ausfuhr von Sämereien verboten sei. Ich nahm das zu seinem Leidwesen nicht ernst und hatte vor, diese Bagatelle an der Grenze nicht anzugeben, auf dass es niemand merkte.
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Kurz vor der Grenze tankte ich noch, denn das Benzin war drüben viel teurer.
Als wir die Kontrollhäuschen bereits sahen, belehrte meine Frau die Kinder sicherheitshalber: „Wenn der Grenzpolizist irgendetwas fragt, dann seid ihr ruhig und lasst Vati antworten.“
Die Jungen nickten eifrig und wir fuhren mit gezückten Personalausweisen an den Grenzübergang. Der Zöllner kontrollierte unsere Ausweise sehr gewissenhaft, dann fragte er, während er uns die Dokumente zurückgab, ob wir irgendwelche Geschenke für ČSSR-Bürger bei uns hätten. Ich verneinte dies und während er uns eine gute Fahrt wünschte und ich Gas gab, ertönte von hinten die verzweifelte Stimme unseres 7-jährigen Sohnes. Er rief so laut er konnte: „Aber Vati, das Vogelfutter!“
Ich war zum ersten Mal froh, dass der Trabi so laut war. Der Zöllner hatte anscheinend nichts mitbekommen. Ich dachte nur: „Das hat man davon, wenn man seine Kinder zur Wahrheitsliebe erzieht!“

Aus dem Buch "Reisehusten" von Wilfried Hildebrandt


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