Traum(a)hafte Kindheitserlebnisse

An einem kalten und unfreundlichen Tag im Februar des Jahres 1932 begann mein Leben in einer grauen, tristen Gegend inmitten des Ruhrgebiets. Der Schnee verbarg dies nur sehr dürftig mit seinem schmutzigen Weiß. Der Vorort zählte nicht zur ersten Adresse der Stadt und meine Eltern waren einfache Leute, Vater arbeitete in der Fabrik gleich nebenan. Ich hatte nicht die Möglichkeit, Eltern oder Umgebung auszuwählen.
Ich lebte in meiner Welt, die ich mit den Augen eines Kindes wahrnahm. Alles, was um mich herum geschah, war für mich ganz selbstverständlich, denn ich kannte nichts anderes. Ich fühle mich absolut unschuldig daran, daß einem gewissen Herrn Hitler die Führung der Regierungsgeschäfte übertragen wurde, noch bevor ich mein 1. Lebensjahr vollendete. Ich war gerade dabei, mühsam zu erlernen, wie man Mutti und Vati sagt, und konnte zum Ausdruck bringen, daß ich Hunger hatte oder gereinigt werden wollte. Das allein war mir wichtig.
Später ging ich in den Kindergarten. An den Wänden hingen Fotos von ‚unserem Führer‘ mit dem Bärtchen unter der Nase, der in die Stirn fallenden Haarsträhne und dem grimmigen Blick. Mir wurde der ‚Deutsche Gruß‘ mit in Augenhöhe erhobenem und ausgestrecktem rechtem Arm beigebracht, als ich etwa 5 Jahre alt war. „Heil Hitler!“ mußte ich dann sagen, auch wenn mein Gegenüber einen anderen Namen trug und ich nicht einmal wußte, was dieses ‚Heil‘ bedeutete. Aber da es alle so taten, war es für mich auch nicht ungewöhnlich.
Als ich 7 Jahre alt war, begann der Krieg gegen Polen. Kurz vorher war in der Schule ein Film gezeigt worden, der schreckliche Greueltaten von Polen an Deutschen zeigte. Ich erlebte förmlich die Angst der Menschen mit, die man in einen bis zur halben Höhe mit Wasser gefüllten Keller sperrte und von außen mit Maschinengewehren durch die Kellerluken auf sie schoß. Es war furchtbar anzusehen – und ich sah es mit kindlichem Gemüt, es hat mich beeindruckt. Es war also gerade recht, daß ein so böses Volk bestraft wurde, war meine Meinung. Daß mit dem kurzen Krieg gegen Polen ein Inferno, der Zweite Weltkrieg, begann, konnte ich damals noch nicht ermessen.
Einige Zeit später drangen deutsche Soldaten weiter nach Osten vor. Daraufhin erklärten die Großmächte und andere Länder Deutschland den Krieg. Fast die ganze Welt erhob sich gegen uns, daher auch die Bezeichnung ‚Weltkrieg’. Jenseits der Grenzen kämpften deutsche Soldaten gleichzeitig an 3 Fronten: In Rußland, in Frankreich und in Nordafrika. Feindliche Flugzeuge warfen auf unser Land Bomben, sie wollten die Fabriken zerstören, um die Waffenproduktion zu verhindern. Vielleicht konnte man damals noch nicht so genau zielen, denn es fielen Bomben auch in Wohngebiete, und nicht nur wenige. Besonders gefährdet waren die Stadtteile in der Nähe großer Fabriken. Das traf auch auf uns zu.
Wenn nachts die Sirenen mit durchdringendem, auf- und abschwellenden Ton zu heulen anfingen, war es Fliegeralarm! Feindliche Flugzeuge waren im Anflug. Angstvoll sprangen die Menschen aus dem Bett, warfen sich hastig ein Kleidungsstück über, ergriffen die immer bereitstehende Tasche mit den wichtigen Papieren und eilten in den Luftschutzkeller. In einigen Stadtteilen gab es Bunker, teils mächtige Betonklötze unter der Erdoberfläche, teils spitze, granatenförmige über der Erde gebaut. In unserer Nähe gab es keinen Bunker. Deshalb mußten wir bei Fliegeralarm den Keller im Vorderhaus aufsuchen, weil dessen Gewölbe angeblich stärker war als in unserem. Da saßen dann Kinder und Erwachsene gemeinsam mit den Nachbarn zusammengedrängt in dem kalten Keller, der eigentlich für die Lagerung der Vorräte gedacht war. Vor Angst wagte keiner zu sprechen. Dann hörte man das dumpfe Brummen der schweren Lancaster-Bomber, die immer näher kamen. Schweigend warteten die Menschen auf das Unabwendbare. Sie hatten Angst, die Nerven zum Zerreißen angespannt, hilflos dem Schicksal ausgeliefert, ohne etwas dagegen tun zu können. Klang das Brummen wieder ab und keine Bomben waren gefallen, wich die Spannung und man atmete auf. Eine andere Stadt war wohl in dieser Nacht das Ziel gewesen, wir sind noch einmal davongekommen. Erleichtert gingen wir nach dem langgezogenen Sirenenton zur Entwarnung wieder ins Bett.
Besonders schlimm aber war es, wenn die Detonation einer in unmittelbarer Nähe einschlagenden Bombe das Haus bis in seine Grundmauern erschütterte und der Mörtel von der Kellerdecke herabfiel. Es war furchtbar für mich als 8-jähriges Kind, selbst von unbeschreiblicher Angst geplagt, miterleben zu müssen, wie Erwachsene wimmerten, mit zitternder Stimme zu beten begannen oder schrieen. Ich war damals noch zu jung und nicht fähig, die ganze Tragweite des Geschehens zu erfassen – aber unheimliche Angst hatte ich auch.
Wenn am nächsten Tag nach einem Fliegerangriff ein Klassenkamerad in der Schule fehlte, bedeutete dies, daß das Haus, in dem er wohnte, wohl von einer Bombe getroffen worden war. Daß solche traumatischen Erlebnisse voller Angst und Hilflosigkeit einer kindlichen Seele großen Schaden für ein ganzes Leben zufügten, danach fragte keiner, damals nicht – und später auch nicht. Heutzutage sucht man in der Vergangenheit bei jedem Verbrecher und läßt Milde walten, wenn er eine »schlechte Kindheit« hatte. – Kann es denn eine noch schlechtere Kindheit als die meiner Generation geben? Wir mußten mit solchen Erlebnissen allein fertig werden. Wann immer ich später Detonationen oder auch nur ein tiefes Brummen vernahm, erinnerte ich mich mit Grausen an die Ereignisse in meiner Kindheit. Das ist mir bis heute als Seelenballast geblieben.
Zeit und Krieg gingen weiter, die ‚Kinderlandverschickung‘ begann. Sorgen um das junge Leben, um Deutschlands Zukunft, hat die Reichsführung veranlaßt, Kinder und Jugendliche in weniger gefährdete Gebiete zu bringen. Den Eltern wurde dies als Sicherheitsmaßnahme für ihren Nachwuchs vermittelt. Und welche Mutter wollte wohl nicht ihr Kind in Sicherheit wissen, auch wenn sie ahnte, daß der wahre Grund ein ganz anderer war. Dadurch kam ich für eineinhalb Jahre zu fremden Leuten nach Württemberg in der Umgebung von Mainhardt und später in die Nähe von Marienwerder in Westpreußen zu meiner dahin evakuierten Mutter. Brandbomben hatten das Haus, in dem wir wohnten, getroffen und zerstört. Ein Zuhause gab es nicht mehr.
Im Herbst 1944 waren im Radio erste Meldungen vom Rückzug an der Ostfront zu hören. Hitler und Goebbels sprachen immer wieder vom ‚Endsieg, der unser sein wird‘, von ‚Wunderwaffen‘ und ‚siegreichen Erfolgen‘. Die Wirklichkeit aber sah anders aus. In Nordafrika hatte der amerikanische General Eisenhower die deutsche Armee unter Generalfeldmarschall Rommel vernichtend bei El Alamain geschlagen und wenigstens dort den Krieg beendet. Nun konzentrierten die Alliierten alle Kräfte auf die Westfront in Frankreich und drängten die Wehrmacht auf die deutsche Grenze zu. Gleichzeitig verstärkten sie den Fliegereinsatz und warfen Bomben mit noch stärkerer Explosionskraft (Luftminen) ab, wodurch noch mehr Menschen starben und die Schäden größer wurden. Die Ostfront war bis auf 80 km an die deutsche Grenze herangekommen und kam langsam aber stetig immer näher. Die Menschen hatten sich bisher auf das Wort des Führers verlassen und an den Endsieg geglaubt – oder nur nicht gewagt, darüber zu sprechen.
Wochen vergingen und mit ihnen jede Hoffnung auf eine günstige Wende. Der Verlust an Menschenleben (Fronten und Bombenangriffe) war nicht mehr zu übersehen. Um den Verlust an ‚Menschenmaterial’ auszugleichen, wurden Jugendliche bereits mit 17 Jahren eingezogen und die Altersgrenze für Männer auf 65 Jahre heraufgesetzt. Später steckten die Verantwortlichen sogar 15-Jährige in viel zu große Uniformen und stellten sie an die Flaks (Fliegerabwehrkanonen). In der Weihnachtszeit hörten wir den ersten Geschützdonner und man sprach hinter vorgehaltener Hand von Flucht. Ich hatte wieder große Angst, Erinnerungen an die Bombennächte wurden geweckt und belasteten aufs neue die kindliche Seele.
Mit Kindern und Greisen versuchte Hitler den Krieg zu gewinnen. Mit knapp 12 Jahren „kämpfte“ ich in der Heimat. Alle männlichen Einwohner zwischen 10 und 70 Jahren mußten vor dem Dorf mit Spaten und Spitzhacken wenige Meter neben der Straße auf dem Acker 1 m tiefe Gräben ausheben. Es war eisig kalt im Januar 1945, die Temperatur lag bei minus 20 C. Es war harte Arbeit, denn der Boden war tief gefroren. In diesen Schützengräben sollten die Soldaten das Dorf verteidigen. Die Alten wußten, daß diese Aktion eine Farce war. Hatte der böse Feind schon die Kraft, die so hochgelobte ‚siegreiche Deutsche Wehrmacht’ mehr als 1000 km von Stalingrad bis hierher zu treiben, dann würde ihn so ein lausiger Graben nicht aufhalten. Nun wurde auch dem einfältigsten Menschen klar, daß die Lage hoffnungslos und alle Propaganda Lüge war. Dieser Einsatz dauerte zum Glück nur bis zum Abend, man hat wohl eingesehen, daß auf diese Weise kein Blumentopf zu gewinnen ist, schon gar nicht dieser grausame Krieg.
Wenige Tage später erging der Befehl zur Flucht. In der Nacht zum 21. Januar 1945 hatten sich alle Einwohner mit einem Fuhrwerk und den persönlichen Sachen vor dem Bürgermeisteramt abmarschbereit aufzustellen. Wer mehr als ein Gespann besaß, mußte ein Fuhrwerk für andere zur Verfügung stellen. Es war angedroht worden, daß der Versuch, zurückzubleiben, mit Tod durch Erschießen geahndet werde. Wie grausam doch Menschen sein können!
Der Bauer, bei dem wir lebten, belud den Ackerwagen mit allem, was wertvoll erschien. Zum Schutz gegen den Schnee waren in Ermangelung einer wasserdichten Plane rote Kokosläufer zusammengenäht und über die Eisenbügel gespannt worden. Wäre der Wagen doppelt so groß, er wäre immer noch zu klein gewesen, obwohl nur das Notwendigste aufgeladen wurde. Hast und Eile, Aufregung und Angst bestimmten die Stunde. Ich wurde warm angezogen, mehrere Hemden und Pullover übereinander. Anstelle von Strümpfen wickelte man mir Fußlappen um die Füße, bevor die ‚Schuhe‘ angezogen wurden. Diese Schuhe (fußgroße, dicke, unbiegsame Holzscheiben, an die das Oberleder angenagelt war) hielten zwar die Kälte von unten etwas ab, doch der Schnee drang durch die Ritzen. Schlimmer war, daß ich mich auf festen Schnee- und Eisflächen kaum auf den Beinen halten konnte. Die glatten Holzsohlen fanden keinen Halt und ich rutschte mehr als ich lief.
Still nahmen die Menschen Abschied von Haus und Heimat, keiner glaubte wirklich daran, daß man nach 3 Tagen wieder heimkehren würde. Noch ein wehmütiger Blick zurück, die Pferde legten sich in die Sielen und knirschend rollten die Räder über den festgefahrenen Schnee auf der Straße ins Ungewisse. Ganz nah hörte man das Donnern der Geschütze und sehr deutlich war ein Abschuß von einem Einschlag zu unterscheiden. Die Front war schon auf 30 km herangekommen, Eile war geboten. Der Treck rollte aus dem Dorf in Richtung Garnsee und Graudenz.
Am Abend des nächsten Tages erreichten wir die Weichsel. Weit und breit gab es keine Brücke. Mit dem schwerbeladenen Fuhrwerk mußten wir über das Eis des zugefrorenen Stromes fahren. Es war befohlen worden, daß zur Sicherheit der nächste Wagen erst dann auf das Eis fahren darf, wenn der vorausfahrende die Mitte erreicht habe, damit das Eis nicht mehr als nötig belastet würde.
Vor uns stand schon eine lange Kolonne, weitere Wagen rollten heran und die Warteschlange wurde länger. Ununterbrochen hörten wir die Geschütze, die Angst wuchs und die Feldgendarmen konnten das Nachdrängen der Hinzukommenden nur mühsam aufhalten. Längst war nicht nur ein einzelnes Fahrzeug auf dem Eis, der Abstand zwischen ihnen wurde immer kürzer, schließlich fuhr ein Wagen nach dem anderen auf das Eis.
Dann waren wir an der Reihe. Es klang dumpf unter den Hufen der Pferde, die mit den Stollen in das Eis hinein hackten, um Halt zu finden. Es war ein unheimliches Geräusch, den der auf dem Eis rollende Wagen verursachte. Ein schier endloses Stück Weg. Ich war gequält von der Angst, einzubrechen und im eiskalten Wasser zu ertrinken. Doch wir erreichten das pommersche Ufer und fuhren hinauf nach Neuburg. Wir hatten es geschafft – diesmal, denn wer wußte schon, was uns noch alles erwartet. Irgendwie fühlte ich mich in Sicherheit, vielleicht nur deshalb, weil zwischen uns und dem Feind die ‚unüberwindliche‘ Weichsel lag – welch kindlicher Gedanke.
Nur eine knappe Stunde später holte uns die schreckliche Nachricht ein, daß das Eis der Weichsel gebrochen sei und alle darauf befindlichen Wagen mit Mensch und Tier in den Fluten ertrunken wären, welch grausames Schicksal!
Die Flucht endete kurz vor Ostern in der Mark Brandenburg, wo ich Zeuge wurde, wie englische Tiefflieger wenige Tage vor Kriegsende einen kleinen Flüchtlingstreck mit fünf Fuhrwerken aus Westpreußen, die bis hierher gekommen waren, mit ihren Bordkanonen brutal niederschossen. Keiner hat überlebt, auch die Pferde waren tot.
Was die Russen nach ihrem Einmarsch dann für ein schreckliches Unheil brachten, besonders über Frauen und Mädchen, das wäre ein eigenes Kapitel meiner traum(a)haften Erlebnisse.
Bei Kriegsende war ich gerade dreizehn Jahre alt, nun habe ich mehr als siebzig Jahre auf dem Buckel, aber ich werde diese Kindheitserlebnisse bis ans Lebensende nicht vergessen. Es reicht ein Knall, ein Brummen, ein Gedanke, um das Erlebte wieder vor meinen Augen erstehen zu lassen.
Der Himmel schenke, daß sich solche Grausamkeiten nie wiederholen mögen.
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WernerStyrum

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Kommentare (2)

Monja_moin Es sind schlimme Erlebnisse und Erinnerungen.
Ich hatte das Glück erst nach dem Krieg geboren zu sein.

Öfters frage ich mich, wie mögen es die Kinder verkraften, die in den heutigen Krisenregionen geboren sind und aufwachsen? Leider gibt es heute immer noch zu viele solcher Regionen.
Was wird aus den Kindern einmal werden, die nie wirklichen Frieden kennengelernt haben. Wer hilft ihnen?

Monja.
nnamttor44 irgendwie denke ich schon, wie fürchterlich diese traumatischen Kindheitserinnerungen alle, die sie erleben mußten, bis heute quälen! Ich bekam grad vor ein paar Wochen noch ein paar alte Fotos, die mein Vater als Sani im Krieg im Rußland-Feldzug für sich bekommen hatte, auch schreckliche Fotos. Von meiner Stiefmutter - bald 90 - hörte ich, dass er 1963 so sehr unter dem Erlebten litt, dass er in ein Sanatorium geschickt wurde. Dort fantasierte er davon, dass er einem 18-jährigen Schwerverletzten abends noch Erleichterung verschaffen wollte, weil er vor Schmerzen nur noch nach seiner Mutter schrie. Aber der San-Arzt verbot das, weil "der sowieso die Nacht nicht überlebt"!

So schlimm die Erlebnisse der Kinder und Jugendlichen waren, auch die Soldaten, in diesem Fall mein Sanitäter-Vater, wurden von diesen Gräueln nicht verschont. Seine tiefen Depressionen mündeten dann im Parkinson, der ihm letztendlich all das nahm, was ihm bislang noch Freude vermittelt hatte.

Möge der Herrgott Deinen Wunsch erhören und den Kriegen dieser Welt ein gnädiges Ende bereiten!!

Lieben Gruß sendet Uschi

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