Mit Mutti im Altvatter-Gebirge


Sommerferien 1942

Mutti und ich fuhren mit dem Vorortzug von Eichwalde nach Königs Wusterhausen und bestiegen dort den Eilzug, der vom Görlitzer Bahnhof in Berlin kam und weiterfuhr nach Schlesien.
Er hielt an so vielen Bahnhöfen, die ich aus der Erdkundestunde kannte – Lübben im Spreewald, Forst, Cottbus, Görlitz, Hirschberg im Riesengebirge und viele andere Stationen dazwischen. In Glatz mussten wir den Zug verlassen.

Wir hatten reichlich Zeit bis zur Weiterfahrt und gingen in die Stadt. Dabei mussten wir die Brücke über die (Glatzer) Neisse passie-ren. An den Brückentoren hingen Schilder mit der Aufschrift „Ohne Schritt und Tritt“, was bedeutete, dass die Marschkolonnen hier nicht im Gleichschritt über die Brücke gehen durften.

Wir kehrten in eine Gaststätte ein. Für das Mittagessen mussten wir Abschnitte von den Lebensmittelkarten abgeben. Am Nachmittag kehrten wir wieder zum Bahnhof zurück. Wir bestiegen einen Bummelzug, der über Habelschwerdt und Mittelwalde hin zur tschechischen Grenze fuhr.

Für uns war die Reise mit der Bahn in Mit-telwalde zu Ende. Ein Schild an dem Weg zu dem Dorf, wohin es noch gehen sollte, wies darauf hin, dass man dorthin 5/4 Stunden brauche. Was der Mann, den Mutti etwas fragte, sprach, konnte ich nicht verstehen. Ein Feldweg führte uns hinauf.

Die Landschaft war hügelig. Rechter Hand begrenzte das Schneegebirge (oder auch das Altvatter-Gebirge genannt) den Horizont. Es war mächtig. Wie hoch es war, das durften wir später im Wandern erfassen.

Wir landeten am Abend in einem Dorf mit wenigen, schlichten Bauern- und Tagelöhner-Häusern. Die Leute waren sehr einfach gekleidet, fast ärmlich. Eine Art Einsamkeit war zu spüren. Hier also war Onkel Ernst, Muttis Schwager, als Dozent in den Wintersemestern immer mit den Sportstudenten zum Skifahren. Wie mächtig der Schnee da im Winter liegt, das konnten wir nur ahnen. Noch war es Sommer, die Ernte war in vollem Gange.

Mit Mutti ging es in langen Wanderungen hinauf ins Gebirge. Es war egal, ob die Sonne schien oder die Wolken die Berge einhüllten. Bei so einem Aufstieg nahm ich eine blecherne Zigarillo-Dose mit, ich wollte mir ein Stück Wolke mit hinunter nehmen. Mit ganz wenigen Wassertropfen kam ich in der Pension wieder an. Das war eben eine Erfahrung, nie war ich zuvor in den Wolken. Aber etwas war so schön: Ganz da unten im Tal der Neisse schlängelten sich Straße und Eisenbahnschienen von Nord nach Süd; winzig zog ein Zug eine Rauchfahne mit sich, wie eine Spielzeugbahn. Wenn man ganz leise war, konnte man Kirchenglocken und Lokomotivpfeifen heraufhören.

Für mich gingen die Ferien bald zu Ende. Mutti dagegen blieb noch einige Zeit länger dort oben. Ich fuhr nun alleine zurück nach Eichwalde. Für mich als Eisenbahn-Fan war diese Reise wieder hoch interessant.

Den Grund, warum Mutti länger da im Glatzer Bergland geblieben war, sollten wir einige Monate später mit Gewissheit erfahren: ein weiteres Geschwisterchen war unterwegs: unsere Schwester Uschi, jetzt waren wir sechse.

In 2004 bin ich mit dem Auto nach Schlesien ins Glatzer Bergland gefahren, um die Bilder von damals aufzufrischen. Ich bin über Stock und Stein durch’s Gebirge gezockelt, was dem Auto wohl nicht gerade gut getan hatte. Noch am selben Tag bin ich weiter in die Tschechei gefahren, zu Freunden in Prag. Die Bilder von damals fanden kein Gleichnis. So bleiben eben nur die Erinnerungen wie hier beschrieben.

Doch eines ist im Inneren noch ganz fest: diese Ferien mit Mutti, ich hatte Mutti mal ganz für mich.


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Kommentare (1)

Traute Wunderschön geschrieben, zum Mitempfinden.
Das mit dem Wiederfinden, kann ich bestätigen, es ist wie eine böswillige Karikatur dessen, was man geehrt und geliebt bewahrt hatte.
Lieb Grüße,
Traute

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