Forum Wissenschaften Geisteswissenschaft / Philosophie Führt der grenzenlose Fortschritt nicht in eine Fremdbestimmung?

Geisteswissenschaft / Philosophie Führt der grenzenlose Fortschritt nicht in eine Fremdbestimmung?

olivenzweig
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Re: Führt der grenzenlose Fortschritt nicht in eine Fremdbestimmung?
geschrieben von olivenzweig
als Antwort auf Karl vom 10.04.2010, 14:19:22
vielleicht illusorisch... den Focus nicht aufs Technische auszurichten, stattdessen ein Mehr auf: zurueck zur Natur, weniger Komfort in unseren Leben, weniger Zaeune, Mehr Zuneigung und Hilfsbereitschaft dem Naechsten gegenueber ...
Thoreau schrieb:

"Most of the luxeries and many of the comforts of life are not only indispensable, but positive hinderances to the elevation of mankind".

Mark Twain sagte es mit anderen Worten:

"Time and tide wait for no man.
A pompous and self satisfied proverb, and was true for a billion years; but in our day of electric wires and water ballast we turn it around: Man waits not for tide nor time".
indeed
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Re: Führt der grenzenlose Fortschritt nicht in eine Fremdbestimmung?
geschrieben von indeed
Hallo Arno,

ich möchte einmal nachfragen:
Geht es jetzt speziell um die Vokabel Fremdbestimmung oder ist es so auszulegen, dass sich die Technik aufgrund von Weiterentwicklungen sich so verselbständigt, dass der Mensch sie nicht mehr beherrschen kann?
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Forschungszentren der Uni's als auch die der freien Wirtschaft der Politik untergeordnet sind.
Ansonsten möchte ich noch einmal auf meinen ersten Beitrag sowie auf den von dutchweepee hinweisen.

Gruss Ingrid
carlos1
carlos1
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Re: Führt der grenzenlose Fortschritt nicht in eine Fremdbestimmung?
geschrieben von carlos1
als Antwort auf Karl vom 10.04.2010, 10:15:59
„Ich sehe nicht, dass die moderne Technik meine Freiheiten beschneidet, ganz im Gegenteil. Die Anschaffung der ersten Spülmaschine ermöglichte mir und meiner Frau nach dem Essen spazieren zu gehen, anstatt aufzuwaschen. Ich sehe auch keinen Widerspruch zwischen Technik und dem Erhalt der Natur, eher im Gegenteil: Wir werden modernste Technik benötigen, um die Natur angesichts der Vielzahl der Menschen zu erhalten.“ Karl



Hallo Karl,
gewiss verschafft die moderne Technik dem Konsumenten viele Annehmlichkeiten. Ich schätze sie auch sehr. Die Erfindungen der modernen Medizin und ihrer Technik ermöglichen die erfolgreiche Behandlung vieler Krankheiten. Die Senkung der Kindersterblichkeit im 19. Jhd war der Startschuss zu einer starken Bevölkerungsvermehrung, die ihrerseits einen Innovationsdruck zur Besserung der Lebensverhältnisse (Kanalisation, Stromversorgung, Straßenverkehr) auslöste. Heute lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten oder urbanen Agglomerationen, Zusammenballungen von vielen Dutzend Mio Menschen, die sehr häufig unter entwürdigenden Bedingungen leben müssen.


„Muß der Mensch nicht naturverbunden bleiben, damit er nicht in Fremdbestimmung gerät?“ arno


Die Frage ließe sich am ehesten noch beantworten, wenn wir wüssten, was der Mensch ist und was Fremdbestimmung ist. Karl, die Auffassung, dass ich fremdbestimmt bin, wenn ich keine Wahlmöglichkeit habe und mir vorgeschrieben wird, was zu tun ist, stellt mich nicht zufrieden. Ein Akt der Fremdbestimmung liegt m. E. schon vor, wenn ich auf Technik zurückgreifen muss, Innovationen suchen muss, um Technikfolgen abzumildern oder die schlimmen Folgen angewandter Technik zu begrenzen. Beim ersten Schritt mit der Technik in ein Neuland bin ich noch frei, habe ich die Wahl. Beim zweiten, wenn es um die Technikfolgenabschätzung und Behebung der Folgen geht, jedoch nicht mehr. Dann bin ich der Getriebene. Hier beginnt die Fremdbestimmung. Dazu ließen sich viele Beispiele anführen. Ich erinnere nur an den Individualverkehr. So angenehm das Auto für uns sein mag, als Massenverkehrsmittel für weitere Milliarden von Menschen in Asien bereitet es Alpträume. Das Elektroauto wird nicht viel helfen, wenn an die Beschaffung des Lithiums für die Autobatterien gedacht wird.


„Hat uns das Buch Freiheiten genommen?“ Karl


Die Schrift hat unsere Wahrnehmungs- und Denkweise verändert, ebenso das Buch. Auch die elektronischen Medien werden unsere Denkweise verändern. Ist jede Veränderung an sich schon gut, weil sie eine Änderung erbringt? Leitet jede Veränderung ihre Berechtigung aus der Brauchbarkeit und der Befriedigung menschlicher Neugier und anderer Bedürfnisse? Wo liegen dann die Grenzen? Im Bedürfnis des Menschen liegt es u. a. auch andere zu vernichten.


Der Glaube an die Macht menschlicher Vernunft bedeutet nicht eo ipso ein Bekenntnis zu einer moralischen Werteskala, da es (vorerst) offen bleibt, ob die Vernunft (Wissenschaft und Technik) ihrem Wesen nach an eine solche gebunden sein muss, wie es in der der platonisch-aristotelisch-christlichen Tradition der Fall war oder ob sie bloß wertfrei und zweckrational (homo oeconmicus!) handeln kann.


„Das bestehende System funktioniert glänzend - leider zerstört es seine eigene Grundlage. Damit ist es ein »programmierter Selbstmord«“ wolfgang


Papst Johannes Paul II. sprach vom bestehenden wirtschaftlichen System als einem zum Tode verurteilten System.

Viele Grüße
c.


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siegfried46
siegfried46
Mitglied

Re: Führt der grenzenlose Fortschritt nicht in eine Fremdbestimmung?
geschrieben von siegfried46
Fremdbestimmung erfolgt immer dann, wenn sich jemand einem technischen Gerät oder einem anderen Menschen anvertraut, hat also nicht unbedingt etwas mit Fortschritt zu tun, zum Beispiel, wenn ich in einer Pferdekutsche fahre, werde ich sowohl vom Pferd als auch vom Kutscher fremdbestimmt.


Fremdbestimmung durch technischen Fortschritt wird umso grösser, je mehr man sich technischen Geräten anvertraut, deren Funktionsweise man nicht mehr versteht und die man nicht mehr selber kontrollieren kann.


Technischer Fortschritt kann aber auch mehr persönliche Freiheit und Unabhängigkeit bedeuten, wenn man mit Hilfe von technischen Geräten Dinge erledigen kann, die man früher entweder gar nicht oder nur mit Hilfe anderer Menschen verrichten konnte.
Mitglied_bed8151
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Re: Führt der grenzenlose Fortschritt nicht in eine Fremdbestimmung?
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf arno vom 09.04.2010, 21:28:37
Hans Jonas hatte stets gewarnt vor den Gefahren der modernen Naturwissenschaft + der modernen Technik verbunden mit einem Wirtschaftssystem, das, soll es nicht kollabieren, maßlos immer mehr Güter produzieren muss. 1987, als Jonas den 'Friedenspreis' bekam, sagte der Laudator:
"Praktische Folge dieser Furcht [vor der realen Gefährdung des Lebens] muß das sein, was in der Sprache der Moraltheologie des 17. Jahrhunderts einmal Tutiorismus* hieß, ein neuer Tutiorismus. Das heißt: An Stelle des neuzeitlichen Prinzips »Im Zweifel für die Freiheit« muß heute die Beweislast umgekehrt werden: »Im Zweifel für das Leben.« Hinsichtlich drohender großräumiger und irreversibler Schädigungen des Lebens auf der Erde muß künftig Unschädlichkeit bewiesen werden, nicht Schädlichkeit."

aus... Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Laudatio, Robert Spaemann

Und Jonas sagte:
"Daß sie [die Gesellschaft] sich Grenzen setzt, ist erste Pflicht aller Freiheit, ja, die Bedingung ihres Bestands, denn nur so ist Gesellschaft möglich, ohne die der Mensch nicht sein kann und auch nicht seine Herrschaft über die Natur."

aus... Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Rede, Hans Jonas

* Tutiorismus - von lat. tutior (Komparativ von tutus: sicher). Tutior ist ein Vorgehen, wenn bei unklaren Folgen stets der sicherere Weg eingeschlagen wird.

--
Wolfgang
Karl
Karl
Administrator

Re: Führt der grenzenlose Fortschritt nicht in eine Fremdbestimmung?
geschrieben von Karl
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 11.04.2010, 10:22:25
Tutior ist ein Vorgehen, wenn bei unklaren Folgen stets der sicherere Weg eingeschlagen wird.
Das ist ein wichtiges Prinzip bei lebenswichtigen Fragen. Ich bejahe dieses Prinzip! Es muss aber gepaart sein mit einer umfassenden und vorurteilsfreien Situationsanalyse. Es ist ja keineswegs so, dass automatisch immer der sicherere Weg ist, etwas nicht zu tun, sondern es kann sehr wohl passieren, dass die Unterlassung, z. B. der Einführung einer neuen Technologie, langfristig weit unsicherer und katastrophaler ist als ihre Anwendung.

Karl

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Mitglied_bed8151
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Re: Führt der grenzenlose Fortschritt nicht in eine Fremdbestimmung?
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Karl vom 11.04.2010, 11:53:21
[ironie]Als die Atomindustriellen zuerst die Atombomben und dann die Atomkraftwerke von ihren Forschern und Technikern basteln ließen, hat man es genauso gemacht. Wo wären wir heute ohne diese fortschrittlichen Techniken?[/ironie]

--
Wolfgang
arno
arno
Mitglied

Re: Führt der grenzenlose Fortschritt nicht in eine Fremdbestimmung?
geschrieben von arno
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 11.04.2010, 12:05:15
Hallo, wolfgang,

hier wurde im D-Radio ein sehr interessantes Buch von Stephanie Cookie mit dem Titel: "Die Nuklearindustrie und ihre Lügen"
empfohlen, welches Deinen Beitrag untermauert!


Ich persönlich bin nicht technikfeindlich eingestellt.
Die Probleme, die wir im Umgang mit der Technik haben, sind ausschließlich
politisch verursacht.

Eine Umstellung des Wirtschafts- und Steuersystems ist längst überfällig!

Viele Grüße
arno
Mitglied_bed8151
Mitglied_bed8151
Mitglied

Re: Führt der grenzenlose Fortschritt nicht in eine Fremdbestimmung?
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf arno vom 11.04.2010, 12:23:45
Wenn Du einen dieser Atomindustriellen fragst, Arno, dann wird der über seine AgitProps und per Hochglanzbroschüren, geschmückt mit viel Grün, dreist verbreiten lassen, er sei auch für Hans Jonas' Prinzip Verantwortung. Seine Agitprops werden davon sprechen, dass der Verzicht auf die Atomtechnologie noch viel schlimmer für die Menschheit sei, als die Nutzung derselben.

Zum Schluss gebärdet er sich als verantwortlich und macht unbeeindruckt genau das weiter, vor dem Jonas gemahnt und gewarnt hatte.

--
Wolfgang
Karl
Karl
Administrator

Re: Führt der grenzenlose Fortschritt nicht in eine Fremdbestimmung?
geschrieben von Karl
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 11.04.2010, 13:08:37
Deine Rhetorik, Wolfgang, ersetzt keine Argumente. Es gibt sehr gute Argumente, gegen die Atomenergie zu sein (z. B. weil die Endlagerung über zigtausend Jahre unsicher ist) und ich lehne deshalb z. B. diese Technik ab. Daraus können wir aber doch keine Begründung für eine generelle Technologiefeindlichkeit ableiten. Solartechnik, Geothermie (ich weiß, Du bist ein Anhänger davon) etc. sind Techniken, die nachhaltiger sind und die zu entwickeln also Sinn macht. Das zeigt doch, dass wir immer genau hinschauen müssen.

Tutiorismus wäre m. E. die Finger von Kernkraftwerken lassen.
Tutiorismus wäre m. E. regenerative Energien auszubauen.

Also das eine tun, das andere nicht tun. Auch die Unterlassung eines Tuns kann ein Fehler sein. An einer Abwägung von Risiken kommen wir nicht vorbei, wenn wir uns entsprechend der auch von Dir gewünschten Maxime verhalten wollen.

Karl

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