Die Stricklisl

 

Das Totenbrett zum Gedenken an Lisbeth Haberl* stand viele Jahrzehnte am Ort ihres Ablebens. Bei meinem letzten Besuch in Bayern in der Weihnachtszeit vor zwei Jahren war es nicht mehr da. Der Zahn der Zeit habe es zerfressen, meinte meine Schwester.

Ich erinnere mich noch gut an die alte Frau. Die Leute nannten sie Stricklisl, denn sie strickte die schönsten Socken und Strümpfe weit und breit. Natürlich ließ auch unsere Mutter Socken für die Familie von ihr anfertigen. Lisbeth war dankbar über jeden Auftrag und für jede Mark, die sie sich auf diese Weise zu ihrer mageren Rente dazuverdienen konnte.

Bis zu jenem eiskalten Wintertag kurz vor Weihnachten 1964.

Am frühen Nachmittag war sie noch bei uns gewesen, um Sockenwolle abzuholen und Papas Fußmaße zu nehmen, hatte die Suppe dankbar angenommen, die ihr meine Mutter vorgesetzt hatte, bevor sie sich auf den Weg zur Beichte in die Kirche des Nachbarortes machte.

Der Schnee lag hoch und Neuschnee fiel in dicken Flocken, als Lisbeth aus der Kirche trat. Der knapp ein kilometerlange Weg war sicher sehr beschwerlich für die hagere, alte Frau, den sie in der Abenddämmerung heimgehen musste und so hatte sie sich auf halber Strecke auf die Bank unter einen Baum gesetzt, um ein wenig zu rasten, muss aber dabei eingeschlafen sein.

Tags darauf fanden sie Nachbarskinder auf ihrem Schulweg erfroren auf der Bank.

Ich hoffe, unsere liebe Stricklisl hat in jener kalten Dezembernacht nicht gespürt, wie Väterchen Frost mit seiner eisigen Hand nach ihrer Seele gegriffen hat.

 
*Name geändert

Bild von Gaby auf Pixabay
 
 
 


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Kommentare (14)

Claudine

Namentlich Sanssouci,  Florentine, Syrdal, LisaK, ladybird und keyly danke ich für ihre großartige Herzchenspende. Ich habe mich sehr gefreut darüber.

Ich wünsche Euch allen eine frohe Weihnachtszeit und grüße Euch ganz lieb.
Irmina

ladybird

....eine sehr schöne Erinnerung an die "Stricklisl", somit ist sie  ja nicht wirklich gestorben, wenn noch ,an sie so lieb gedacht wird, wie Du deine Erinnerung hier mit uns teilst.
bayr.W+spessart 042.jpgund das werde ich später auch tun, wenn ich mir die mollig-warmen selbstgestickten Strümpfe von einer Tante, überziehe...
mit Dank, Freude und Gruß
von ladybird

Claudine

@ladybird  

Danke, liebe ladybird, für das schöne Foto mit den Totenbrettern. Im bayrischen Wald sieht man sie noch häufig. Und ich schaue mir sie gern an.
Selbstgestrickte Socken - weich und warm. Früher war das anders, da haben die langen Strümpfe bis oben hin, gekratzt und die Gummibänder schnitten in den Oberschenkel... Ich mochte sie nicht so gern. Als ich die erste Strumpfhose bekommen habe, war ich soooo glücklich.

Einen schönen, gemütlichen Abend in deinen mollig-warmen Socken
Irmina

 

ladybird

@Claudine  
ich möchte sie NIE mehr missen....
das Foto ist aus dem bayer.Wald...ich weiß allerdings nicht mehr, ob sie heute noch gemacht werden?
IMG_20221125_084717.jpgmit lachemden mollig warmen Füßen und Gruß
Renate-ladybird
 

Claudine

@ladybird  

Kalte Füße bekommst mit diesen wunderschönen Socken sicherlich nicht. Socken stricken ist wieder sehr beliebt. Es gibt - wie an Deinem Modell gut ersichtlich - tolle Wolle. Vielleicht versuche ich auch mal, welche zu stricken. Zeit habe ich derzeit ja, denn ich habe Covid seit gut einer Woche, so richtig mit viel Fieber und rasenden Kopf- und Gliederschmerzen.

Bleibe gesund, mit diesen warmen Socken sollte dies kein Problem sein.
Ganz liebe Adventsgrüße
Irmina

indeed

Eine sehr zu Herzen gehende Erinnerung, liebe Claudine. 
Es ist gut, dass wir nicht wissen, wie und wann uns der Tod einmal begegnen wird.

Schön empfinde ich deine Erinnerung an die Stricklisl, Menschen mit Herz hinterlassen immer Spuren in den Herzen anderer und so leben sie in ihnen fort - irgendwie.

Eine schöne Adventszeit wünsche ich dir und grüße dich herzlich.

indeed

Claudine

@indeed  

Es gibt Menschen, die niemanden mehr haben. Die Stricklisl war so ein Mensch. Ich mochte sie und ihre zwei Katzen sehr.

Eine besinnliche Weihnachtszeit und herzliche Grüße, liebe indeed.
Irmina

werderanerin

Das geht zu Herzen,  liebe Irmina, weil es, wie sooft im Leben Menschen trifft, die immer für andere da sind, ein bescheidenes Leben führen.

Kristine mit lieben Grüßen 

Claudine

@werderanerin  

Stimmt, liebe Kristine, da bin ich ganz Deiner Meinung, denn das trifft genau auf die Stricklisl zu. Kaum verheiratet ist ihr Mann im Krieg gefallen, sie war kinderlos und hat nie wieder geheiratet. Ihren Lebensunterhalt hat sie sich als Dorfhelferin verdient, hat die Kirche geputzt und Socken gestrickt.

Herzliche Grüße
Irmina

Christine62laechel


Liebe Claudine, natürlich wird man beim Lesen schon traurig... Doch man muss sowieso mal weg; wäre dann so eine Art Einschlafen in den Armen vom "Väterchen Frost" nicht ein Segen für die liebe Stricklisl gewesen? Wenn sie jetzt mitliest - alles ist ja möglich - vielleicht erinnert sie sich auch an diesen Abend, und ist froh, dass du so schön darüber erzählt hast.

Mit Grüßen
Christine

Claudine

@Christine62laechel  

Klar, wir müssen einmal alle gehen, aber nicht auf diese Weise, hoffe ich. Das ganz Dorf war damals tief bestürzt über den schrecklichen Tod der armen Stricklisl. Wir Kinder mussten täglich auf unserem Schulweg an dieser schaurigen Bank vorbei.
Wenn ich heute in Bayern bin, mache ich gern Halt auf dieser Bank unter dem Baum. Es fühlt sich gut an und ich denke, das kommt vom guten Geist, der diesem Ort inne wohnt.

Herzliche Grüße
Irmina

Christine62laechel

@Claudine  

Also doch, liebe Irmina...

Syrdal


Es sind die Schicksale der Ärmsten,
die wieder und wieder geschehn,
vom Guten im Leben vergessen,
wen trifft es heute, wen morgen, wen…?

...fragt sich
Syrdal

Claudine

@Syrdal

Ja, ganz recht, lieber Syrdal, solche Schicksale gehen unter die Haut. Zumal wenn es die Menschen trifft, die immer redlich und verständnisvoll ihren Mitmenschen gegenüber waren, ihre Armut mit Würde getragen haben, wie die Stricklisl.

Vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich habe mich sehr darüber gefreut.
Eine besinnliche Woche wünscht Dir
Irmina


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