Forum Kunst und Literatur Literatur Wie es sich anfühlt, an Weihnachten nach Hause zu fahren

Literatur Wie es sich anfühlt, an Weihnachten nach Hause zu fahren

Sirona
Sirona
Mitglied

Wie es sich anfühlt, an Weihnachten nach Hause zu fahren
geschrieben von Sirona

Bahnhof.jpg.png
 

Diese Geschichte fand ich zufällig im Internet. Sie hat mich sehr angesprochen, so lebensnah geschildert und absolut nachvollziehbar. Weihnachten bedeutet auch Heimat.
Ich liebe das Stadtleben, aber im Herzen bin ich immer noch ein Kind vom Dorf.
Eine Stunde, bis der nächste Zug kommt. Und ich sitze hier, erfriere fast und habe kein Netz. Die Bahnhofsbäckerei hat schon lange zu, kein Croissant zum Warten heute, irgendwann rauschen dunkle Güterwaggons vorbei. Dann wieder ganz lange nichts. Noch eine Zigarette, eisige Finger.
Es gibt kaum eine Situation im Leben, in der ich das Glück mehr spüre als in dieser. Die Fahrt von der Großstadt nach Hause; das Umsteigen vom Schnellzug in Bimmelbahnen; von der riesigen Stadt in die sehr kleine und schließlich in mein winziges Dorf. Seitdem ich ausgezogen bin, fahre ich mal häufiger, mal seltener nach Hause, ganz sicher aber an Weihnachten.
Und ja, die Heimreise ist dann immer damit verbunden, an eisigen Bahnhöfen auf den Anschluss zu warten, Taschen und Geschenke in die Gepäckablage überfüllter Züge zu quetschen. Erst an ganz vielen weihnachtlichen Lichtern vorbeizufahren – und dann irgendwann nur noch durch die schwarze Nacht.
Aber die Vorfreude auf das gemütliche Fest in der Einöde, auf Vaters Rindsrouladen, auf Mutters Kuscheldecke, auf einen Garten mit Tau auf dem Rasen, der einfach nur da ist, um ihn mal durchs Fenster anzusehen: Diese Freude darauf und die Sehnsucht danach sind riesig.
Denn ab jetzt kann man wieder spazieren gehen, ohne auf ein Auto zu treffen. Ohne auf überhaupt irgend jemanden zu treffen. (Und falls doch, dann ist es der Nachbar, der auch gerade spazieren geht. Und den man wirklich kennt, anstatt neben ihm zu wohnen, und ihn nur zu hören, anstatt ihn zu sehen.)
Vom 23. Dezember bis Neujahr schlafe ich in meinem alten Kinderzimmer auf 90 x 200 Zentimetern behaglicher Enge. Und diese Enge tut so gut: Sie zwingt mich, mich mal wieder auf mich selbst zu besinnen. Denn außer dem Bett steht in diesem Zimmer kaum etwas. Nur alte Schränke, in denen sich alte Kinderbücher, Schulhefte und Tagebücher voller Pubertätsgedanken stapeln. Gedanken, die mal meine waren. Aus meiner Kindheit. In der Weihnachten auch schon so besonders war.
In dem Regal gegenüber vom Bett hängt kein Fernseher, auf dem bis zum Einschlafen Serien laufen. Die Serien haben jetzt Pause. Und an der Wand hängen Bilderrahmen. Die an Momente erinnern.
Ach ja, an diesem Ort der Vergangenheit lebten auch mal meine Freunde. Wir haben hier Scheunenpartys gefeiert und Shisha geraucht in der Ecke am See, von der keiner über 18 wusste. Nun sind wir Masterstudenten oder Arbeitnehmer und überall dort, wo der jeweils andere gerade nicht ist.
Es sei denn, es ist Weihnachten: Dann denken wir aneinander. Treffen uns. Nicht in der Szenebar im Hipsterviertel – sondern in dem Café am Marktplatz, in dem man sich, umgeben von älteren Menschen, erwachsene Fragen stellt: "Und, wie lief dein letztes halbes Jahr?" Um sich dann jugendliche Antworten zu geben: "Ich bin um die Welt gereist und kenne jetzt so viele neue Leute".
Die Panik, anschließend den letzten Bus nach Hause zu verpassen, fällt aus. Weil es gar keinen Bus gibt.
Dafür fahren wir mit den Kombis unserer Eltern durch die Gegend, wissen, welche Strecke wir fahren müssen, um Ampeln und Blitzern zu entgehen, erinnern uns an den Führerschein mit 17.
Oder wir holen das rostige Fahrrad aus der Garage – zum Beispiel, um am Weihnachtsmorgen mit der Mutter in die Stadt zu radeln, weil noch letzte Besorgungen anstehen: Chips und Süßigkeiten aus dem Supermarkt, in dem Mutter bezahlt; eine Strumpfhose aus dem Bekleidungsgeschäft, das zu keiner weltweiten Kette gehört; ein Weihnachtsbaum von dem Händler, dessen Weihnachtsbaumfeld in der nächsten Bauernschaft liegt. 
Und was ist mit der eigenen Hood? Was ist mit Berlin Mitte, Hamburg Sternschanze oder München Glockenbachviertel? Damit ist nicht mehr so viel. Die Hood heißt an Weihnachten nämlich nicht mehr Hood, sondern Nachbarschaft. 
Backsteine, Vorgärten mit Zäunchen, geschnittener Rasen, gepflasterte Einfahrt. Das alles ist furchtbar spießig. Aber als Abwechslung mal ganz nett: Denn es ist das genaue Gegenteil von der anonymen Großstadt, von Flüchtigkeit und Hektik. Es ist auch das Gegenteil vom Zufall: Hier ist alles geplant. Hier schreiben Menschen Einkaufszettel, sie haben volle Kühlschränke und Backbücher. Und schließlich haben sie auch ein wohl überlegtes Weihnachtsessen: Raclette mit Kartoffeln, Speck, frischen Champignons und selbst gemachtem Salat.
Für dieses Essen kommen wir alle an einen Tisch. Und dann: Reden wir über Oma und Opa, über den Frisör, über die komische Verkäuferin – über Leute, die eben schon lange zum Leben, zu unserem Leben, gehören. In unserer Küche und in unserem Haus, fernab von dem kleinen Bahnhof, durch den spätabends nur noch ein paar Güterzüge rollen.
(Nike Laurenz)
 

 

Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Wie es sich anfühlt, an Weihnachten nach Hause zu fahren
geschrieben von Roxanna
als Antwort auf Sirona vom 04.12.2019, 11:43:55
Das ist eine wunderbare Geschichte, liebe Sirona. Ja, das waren noch Zeiten, als man noch nach Hause fuhr und für kurze Zeit fast wieder Kind sein durfte. Lang, lang ist es her, sagt ein wenig wehmütig

Roxanna
val
val
Mitglied

RE: Wie es sich anfühlt, an Weihnachten nach Hause zu fahren
geschrieben von val
als Antwort auf Roxanna vom 04.12.2019, 12:20:15

Hinter den Bildern steckten Tannezweige ..

und auf meinem Nachttisch im 'Kinderzimmer' lag  eine 10ner Karte für Bus- und Strassenbahn:
'Kind, du willst doch bestimmt nochmal in die Stadt..'

Meine Mutter💓

Gruss Val


Anzeige

heide †
heide †
Mitglied

RE: Wie es sich anfühlt, an Weihnachten nach Hause zu fahren
geschrieben von heide †
als Antwort auf Sirona vom 04.12.2019, 11:43:55

Ich habe es bedauerlicherweise nicht nachfühlen können was es heißt, an Weihnachten nach Hause zu fahren...dort anzukommen.
Trotzdem habe ich die Geschichte gerne gelesen.

Sirona, sei gegrüßt.

Heide

werderanerin
werderanerin
Mitglied

RE: Wie es sich anfühlt, an Weihnachten nach Hause zu fahren
geschrieben von werderanerin
als Antwort auf Sirona vom 04.12.2019, 11:43:55
Was für eine schöne Vorweihnachtsgeschichte, da kommt man wirklich ins Grübeln. Auch wenn ich selbst dies so nie erlebte, kann ich alles nachfühlen...und es ist schön zu lesen, dass es so wenig bedarf, um einfach glücklich zu sein, alles das wieder zu erleben, was Vergangenheit war. Plötzlich ist alles wieder da, was Jugend ausmachte und daran wird sich wohl nie etwas ändern.

Es zeigt eben auch, dass man so unglaublich weit weg sein kann..., zu Hause bleibt zu Hause und das wird Vielen so ergehen, denke ich.

Danke für diese ergreifende Geschichte

Kristine     🌲
chris33
chris33
Mitglied

RE: Wie es sich anfühlt, an Weihnachten nach Hause zu fahren
geschrieben von chris33
als Antwort auf Sirona vom 04.12.2019, 11:43:55
meine vorurteile haben sich nicht bewahrheitet. eigentlich sind diese geschichten ja sehr oft  mit vielen emotionen durchflochten und mit "mutti ist die beste" usw...😂, finde ich.

diese junge schriftstellerin - nike laurenz - hat hier ein "homecoming" beschrieben - wie sie es wahrscheinlich selber erlebt hat,  schliesslich hat sie eine zeit lang " übern teich"  gelebt - wie ich nachlesen konnte.

gern habe ich diese geschichte gelesen, sirona - es hat mich an meine vielen  weihnachtsreisen erinnert....ein wenig waren sie immer  reisen in die vergangenheit mit  vielen  erinnerungen im gepäck und auch ein ganz  klein wenig wehmut war dabei... 😉


gruss chris33

 

Anzeige

Chopra
Chopra
Mitglied

RE: Wie es sich anfühlt, an Weihnachten nach Hause zu fahren
geschrieben von Chopra

Diese Erzählung, „wie es sich anfühlt…“, hat mich zurückversetzt in mein „nach Hause fahren“, damals.

Mein Mann hat in Westberlin studiert in den 70ern und zu Weihnachten haben wir uns immer auf den Weg nach Hause begeben, Richtung NRW. Nun, es waren damals unglaublich viele, die im Westen bei ihren Familien Weihnachten feiern wollten. Schon in Berlin, bis zum Grenzübergang, war es eine, nicht zu fassende, Autoschlange. Die armen Grenzposten, die in diesen Abgasen sein mussten. Irgendwann hatten wir dann auch die aufwendigen Kontrollen hinter uns, waren  aber nicht so genervt, wie sonst. Die Weihnachtstimmung hat uns bereits ergriffen. Kaum war der  Grenzübergang geschafft, entspannten wir uns und fingen an zu singen. Alle Weihnachtslieder, die uns einfielen. Es gab auch nicht viel Ablenkung in der Dunkelheit auf unserem Weg, bis zum nächsten Grenzübergang. Ca. zwei Stunden Fahrzeit. Überwiegend Wald, keine Ortschaften. Alles strahlte in diesen Abendstunden Ruhe aus, es war wohltuend. Sobald man dann im Westen war, wurde es bunt. Die Städte rückten näher an die Autobahn heran. Beleuchtete Häuser, Fenster, Gärten und Bäume änderten das Bild. Endlich, nach Stunden waren wir dann bei der, vor Freude strahlenden Familie. Eine heimelige Stube erwartete uns, Weihnachten war angefangen, wir waren zu Hause.

So viele Jahre sind vergangen, aber diese Erinnerung kommt immer mal wieder hoch, voller Wehmut.

Eine frohe und besinnliche Adventszeit wünscht Ursula

 

 
olga64
olga64
Mitglied

RE: Wie es sich anfühlt, an Weihnachten nach Hause zu fahren
geschrieben von olga64
als Antwort auf Chopra vom 04.12.2019, 19:04:06

Als junge Studentin, die in einer WG lebte, fuhr ich auch an Weihnachten "nach Hause", aber nicht zu meiner Mutter, sondern zu einer sehr fürsorglichen Lieblingstante. Die Fahrt dauerte auch nicht lange, weil sich alles in München abspielte.
Die Tante kochte bereits viele Tage vorher und buk Millionen Plätzchen. Dann kamen wir: meine Cousine (die die Tochter war) und ich.
Wir hatten zwar einige Geschenke dabei, aber auch einen Riesenhunger und haben praktisch tagelang durchgegessen. Dann gingen wir mit Tante noch ein wenig in den Englischen Garten, wurden dann aber müde und schliefen viele Stunden durch, um uns von unserem anstrengenden Studentenleben zu erholen.
Irgendwann liessen wir dann Tante mit den "Trümmern" zurück und gingen wieder in unser Leben zurück.
Sie packte uns dann noch viel von den Köstlichkeiten ein, so dass wir luxuriös längere Zeit in der WG davon leben konnten (der Hunger war ja immer gross und das Geld wenig):
Einige Jahre praktizierten wir das so. Aber irgendwann war es vorbei als wir berufstätig wurden und die freien Tage weniger wurden. Dann wählte ich doch für lange Zeit für diesen Weihnachtsurlaub einen sonniges Land, um es zu entdecken und dem Winter entfliehen zu können.
Später machte ich mir dann auch Gedanken wegen der Tante, die wir aus erwachsener Sicht gewaltig ausnützten. Wir sprachen dann auch mit ihr, die es allerdings gar nicht so problematisch sah.
Später revanchierten wir uns (nicht an Weihnachten, sondern während des Jahres). Wir luden sie ein in hübsche Restaurants, nahmen sie dann auch auf SilvesteParties mit, wo sie immer gut angekommen ist, weil sie so lebensfroh lachte und tanzte. War eine schöne Zeit - sie ist lange tot, ich denke aber sehr oft an sie, weil ich später solche Weihnachten nie mehr erlebte. Olga

Mitglied_5fb59d9
Mitglied_5fb59d9
Mitglied

RE: Wie es sich anfühlt, an Weihnachten nach Hause zu fahren
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf olga64 vom 04.12.2019, 19:12:49

Ich bin öfters zu Weihnachten nach Hause oder von dort weg gefahren .
Während der Zeit im Internat , bei der Armee , als Westpendler oder Pendler im eigenen Bundesland .
So richtig kann ich dieses flaue Gefühl im Magen nicht beschreiben .
Respekt vor den Leuten , denen es auch über die Feiertage so geht .
Mit achtungsvollen Grüßen
Gilbert


Anzeige