Das Kind Folge 3 Das Zeltlager



Das Zeltlager

Das Kind schlug die Augen auf, denn es war ausgeschlafen. Es lag sehr bequem in einem Feldbett unter genügend wärmenden Decken. Es schaute in die Runde und dachte: "Mir geht es gut, ich befinde mich ja im Schlaraffenland". Der Raum, in dem das Bett stand, hatte nämlich an allen vier Wänden Regale und die waren voller Kisten und Kartons mit Lebensmitteln. Es roch nach all den Herrlichkeiten, an denen 1947 bei fast allen Familien so großer Mangel herrschte.

Alle Kartons und Kisten waren Hilfslieferungen aus dem fernen Amerika, denn der schreckliche Krieg war nun endlich vorbei. Es war FRIEDEN !


Direkt neben dem Bett befand sich das Regal mit den Rosinen. Längst hatte das Kind mit den kleinen Fingern ein Loch durch die Pappe gebohrt, so dass es vor dem Einschlafen immer noch eine Portion Süsses naschen konnte und auch vor dem Aufstehen war eine Handvoll Rosinen nicht zu verachten.

Es war ein altes Lagerhaus, in dem das Kind sein Nachtlager hatte und ganz in der Nähe war eine große Wiese, auf der viele Zelte standen. Militärzelte natürlich und in jedem waren mindestens 12 Kinder unter gebracht. Es war ein städtisches Zeltlager und sollte möglichst vielen Kindern wenigstens eine Woche Unbeschwertheit und Sattessen bieten.

In den Schulferien kamen die Kinder mit Sportvereinen und Jugendgruppen, die sich nach dem langen verheerendem Krieg schnell wieder gebildet hatte und in der übrigen Zeit die Schulklassen mit den Lehrern.

Der Vater des Kindes leitete das Zeltlager und die Mutter half im Küchenzelt. Das Kind aber war von der Schule befreit und lebte mehr oder weniger sich selbst überlassen in herrlicher Freiheit.

Nach dem es die erste Portion Rosinen verdrückt hatte, hörte es das Signal zum Aufstehen. Schnell zog es sich Sportsachen, oder was es dafür hielt, an und lief zum Mittelpunkt des Platzes. Hier stand das große "Palaverzelt". Warum es so hieß, wusste das Kind eigentlich nicht, vielleicht einfach deswegen, weil alle Zeltlagerbewohner hier Zuflucht fanden, wenn es regnete. Dann wurde hier gespielt, gesungen und eben auch "palavert". In den Schlafzelten konnte man nämlich tatsächlich nur schlafen. In der Mitte war ein Gang und nur dort konnte man aufrecht stehen. Links und rechts davon war das Zelt mit Stroh ausgelegt und darauf breiteten die Kinder ihre Decken aus. Am Kopfende hatten sie ihre Sachen. Viel hatte keines der Kinder und für eine Woche brauchte man ja auch fast nichts.

Vor dem Palaverzelt standen schon die meisten Kinder und auch der Vater des Kindes. Bald darauf ging es los zu einem kleinen Waldlauf.

Herrlich war das, den Tau unter den nackten Füßen zu spüren, der Wald duftete, die Vögel sangen und da war es weiter nicht schlimm, dass es mit den großen Kindern nicht so recht mithalten konnte, denn das Kind war ja erst sieben und die anderen Kinder mindestens zwölf Jahre alt. Zum Schluss machte der Vater noch ein paar Atemübungen vor. Alle Kinder versuchten diese nach zu machen. Dann wurde ein Morgenlied gesungen. "Jeden Morgen geht die Sonne auf", schmetterten die Kinder um die Wette, und das Kind sang mit großer Begeisterung mit.

Nun wurden die meisten aber doch sehr unruhig, denn der Magen knurrte. Die Morgentoilette absolvierten fast alle im See, sogar das Zähne putzen, obwohl es Wasserstellen mit fließendem Trinkwasser gab.

Alle Kinder bekamen drei große Scheiben Roggenbrot, und wenn eines dann immer noch Hunger hatte, konnte es zum Küchenzelt gehen um Nachschlag zu holen.

Für das Kind jedoch stand am hinteren Ausgang des Küchenzeltes immer eine Mahlzeit, die konnte es sich abholen, wann immer es wollte.

Manchmal schloss sich das Kind einer Schulklasse an, wenn diese eine Wanderung unternahm, aber meistens beschäftigte es sich auf eigene Faust ganz allein am See.

Auch die Landschaft um das Zeltlager herum erkundete es ganz allein, und es dauerte nicht lange, bis es sich so gut auskannte, dass es ganz allein den See umrunden konnte.

Als die Schulferien begannen, bekam es endlich Gesellschaft. Der Sohn einer der Helferinnen verbrachte seine Ferien im Zeltlager. Er war ein paar Jahre älter als das Kind, aber die beiden kannten sich bereits aus vorherigen Begegnungen und verstanden sich gut.

Nun streiften sie gemeinsam um den See. Das Kind jedoch gab den Ton an, denn es kannte sich ja bereits aus.

Einmal fanden sie ein paar leere Benzinkanister. Das Kind hatte sofort die Idee, daraus ein Floß zu bauen. Stricke, um die Kanister zusammen zu binden, waren schnell organisiert, aber das Zusammenbinden erwies sich doch als ganz schön schwer. Irgendwann war aber auch das geschafft und nun hieß es "Leinen los". Der Junge hatte ein wenig Angst, denn seine Schwimmkünste waren nicht allzu berühmt. Das Kind aber lachte nur und meinte, es würde ihn schon retten, wenn er in den See fiele.

Außer Sichtweite des Lagers machten sie auf ihrem wackeligen Floß nun immer weitere Ausflüge. Als Paddel dienten alte gefundene Bretter. Das Kind war sehr glücklich und bildete sich ein, es wäre ein großer Kapitän. Es sang und lachte und schaukelte das Floß hin und her. Aber es kam, wie es kommen musste. Der ängstliche Hans fiel ins Wasser und schrie erbärmlich. Dabei hatte er noch nicht mal eine Badehose an. Nun konnte das Kind überhaupt nicht verstehen, weshalb er so einen Aufstand machte. "Halt' dich doch einfach an einem Kanister fest", rief es. "Ich kann nicht schwimmen und ich komme auch nicht wieder rauf auf das Floß, du musst mir helfen". Das Kind sprang ins Wasser, zum Glück hatte es einen Badeanzug an, packte die Beine vom Hans und hievte ihn wieder hoch. "So, nun gib mir deine Hand, damit ich auch wieder an Bord kann". Aber die Angst des Jungen, wieder ins Wasser zu fallen, war so groß, dass er dem Kind nicht helfen mochte. Notgedrungen musste es daher ans Ufer schwimmen.

Leider war das ganze Manöver von einigen anderen Kindern beobachtet worden. Sie holten "Hilfe". Doch als diese eintraf, es war natürlich der Vater des Kindes, hatten sie es längst ans Ufer geschafft . "Du sagst nichts davon, dass Du Angst hattest", konnte das Kind dem Hans noch schnell zu tuscheln, als der Vater auch schon in Hörweite war.

"Das gehörte alles zu unserem Spiel", beteuerten beide einhellig, "Hans ist vom Floß ins Wasser gesprungen und hat gar nicht daran gedacht, dass er ja keine Badehose an hat". Der Vater tat so, als glaubte er die Geschichte. Dem Hans riet er lediglich, sich trockne Sachen anzuziehen.

Die Kinder waren noch oft mit dem Floß unterwegs, und nun hatte auch Hans überhaupt keine Angst mehr und sang und lachte mit dem Kind um die Wette.

Vor jedem Zelt stand ein Bottich, stets gefüllt mit Pampelmusensaft . Der Saft war zwar ein wenig bitter, aber er löschte den Durst ganz wunderbar. Jedes Kind konnte sich sein Blechgeschirr füllen, so oft es wollte. Natürlich stammte dieser Saft auch aus den fernen Amerika, und keines der Kinder wusste, wie die Früchte aussahen, aus denen er gemacht war.

Da die Schlafzelte jede Woche mit frischem Stroh ausgelegt wurden, war der Bedarf daran riesig groß. Daher türmte sich am Ende des Zeltplatzes ein hoher Berg mit Strohballen auf.

Die beiden Kinder waren nun unzertrennlich geworden und beratschlagten, wie sie es anstellen sollten, sich am Abend nicht immer trennen zu müssen. Da hatte das Kind eine Idee, aber dafür würde es auf sein Schlaraffenland verzichten müssen.

"Wir werden uns eine Höhle im Stroh bauen", schlug es vor und Hans war einverstanden. Die Arbeit ging gut voran, denn die Strohballen waren nicht besonders groß. Bald war ein richtiges Kämmerchen entstanden, in dem man herrlich geborgen war. Es wurden ein paar Decken organisiert und dann mussten nur noch die großen Leute gefragt werden, ob sie in ihrer Höhle auch schlafen dürften. Das "Bauwerk" wurde also besichtigt , für sicher befunden, und nun konnten die Kinder so viel sie wollten zusammen bleiben, sogar nachts. Bis zum Ende der Sommerferien hatten sie eine herrliche Zeit.

Aber auch die längsten Ferien gehen einmal zu Ende und der Tag des Abschieds nahte bedenklich schnell. Ach, es flossen sehr viele Tränen, aber sie versprachen sich feierlich, im nächsten Jahr alles zu wiederholen.

Am Tag der Abreise war von dem Kind nichts zu sehen. Es war ganz früh am Morgen aufgestanden, hatte sich ein wenig zu Essen aus dem Küchenzelt geholt und war zu einer Wanderung rund um den See aufgebrochen.

Erst gegen Abend tauchte es wieder auf. Der größte Kummer war nun vorüber, denn es hatte auf seiner Wanderung zwei Kinder kennen gelernt, die in der Nähe des Zeltlagers wohnten.

Eine neue Freundschaft konnte beginnen.

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Kommentare (7)

pippa es stimmt, ich bin sehr dankbar, dass ich trotz aller Armut (die ich gar nicht so empfunden habe) , einen so reichen Erinnerungsschatz habe. Die heutigen Kinder aber würden sich herzlich langweilen, sie sind einfach übersättigt von all den Reizen. Das finde auch ich sehr schade.
Danke, dass Ihr mir so viel Mut macht.

Liebe Grüße von
Heidi
ladybird in Deiner Geschichte war ich wieder Kind,wie schön,nochmals Dank für Deine Haltung, es wäre so schade gewesen, wenn Du uns hättest diese Erinnerung
ehemaliges Mitglied deine Kind-geschichten sind wunderbar wiedergegeben. Sie haben zu Recht ihren Platz in dem Buch "Herzenswunsch".

Liebe Grüße
Gerd
tilli Also Heidi ,diese Geschichten müßten die Kinder lesen, die jetzt in einer anderen Zeit aufwachsen.Vielleicht würden sie etwas nachdenklicher und würden jeden Tag genießen den sie in einer anderen Zeit verbringen dürfen.
Ja,diese Geschichten sind so wie aus meiner Kindheit.
Güße Tilli
koala solche Erinnerungen zu haben !!!
Herzlich
Anita/Australien
ehemaliges Mitglied für diese schöne Geschichte aus Deiner Kinderzeit.

Ich freue mich schon auf die nächste Geschichte - Du kannst so schön erzählen, da maöchte man einfach immer weiter lesen.

Liebe Grüße
Deine Beate
minu Ich liebe Geschichten aus der Kinderzeit.
Grüessli Emy

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