Ein Gockel auf dem Turm von Pisa

Autor: ehemaliges Mitglied

Bildergalerie(vogelfrei)




EIN GOCKEL AUF DEM TURM VON PISA


Was macht ein Hahn, wenn er sich in seinem Stall langweilt? Er fängt an zu denken. Er sitzt lange, wortlos, auf einem Fleck, rührt sich nicht, betrachtet seine Umgebung. Beguckt die gackernden Hennen um sich herum und findet sie abscheulich. Er nimmt die schmutzigen Wände voller Spinnweben wahr, und wenn er ins Freie schauen möchte, wird ihm dies durch die trüben Fenster des Stalls verwehrt. Und schon der Geruch…, der stinkt ja zum Himmel! »Nein, das ist kein Leben«, sagt er zu sich. Er fragt sich obendrein, wieso er täglich mehrmals die immerfort gackernden Hennen bespringen muss, warum er alleine diesen Job verrichten soll. Frei möchte er sein, ja, das wär's.
Da beschließt er aus der Enge des täglichen Einerleis auszubrechen. In derselben Nacht entfernt er sich aus dem übel riechenden Hühnerstall. Er verschwendet keinen einzigen Gedanken daran, dass der Bauer und die Tiere am nächsten Morgen verschlafen werden, wenn er sie nicht in aller Herrgottsfrühe munter macht. Er streikt einfach, er weigert sich, ständig als Wecker benutzt zu werden. Mögen doch andere Hähne diese Aufgabe übernehmen und Ki-ke-ri-ki schreien. Wie gesagt, am Abend, kaum dass der Mond am Himmel erscheint, flattert er lautlos davon.
Es ist eine laue Nacht im Monat Juni und da die Stalltür nach Süden offen steht, überlegt er nicht lange, schlägt eben diese Richtung ein. Er weiß allerdings nicht, dass er den Weg ins Land der Sonne und des Lichts, ins Land der Kultur, der Berge und der Meere, der Trauben und der Weine, der Musik und des Gesangs eingeschlagen hat.
Plötzlich wird ihm so richtig bewusst, dass er frei ist, und dieses wunderbare Gefühl verleiht seinen kurzen Flügeln solch eine Spannkraft, als ob er ein Adler wäre. Weit holt er aus, und leichten Herzens und voller Lust fliegt er ohne zu rasten die ganze Nacht durch.
Als am Horizont die Sonne aufgeht, erblickt er einen Turm, einen schiefen Turm. »Komisch«, denkt er, »was die Menschen alles erfinden.« Voller Misstrauen umkreist er einige Male des Turmes Spitze. Dabei checkt er ab, ob er es wagen kann, ihn anzufliegen, denn die Müdigkeit will ihn übermannen. Er entschließt sich, auf dem schiefen Turm zu landen. Überaus vorsichtig und sanft lässt er sich nieder.
Nach einer geraumen Zeit, als er sich vergewissert hat, dass der Turm tatsächlich stabiler ist als seine Erscheinung vermuten lässt, betrachtet er von oben die Umgebung. Rund um ihn sieht er überall Dächer mit roten Schindeln. Wäsche, die man zum Trocknen aufgehängt hat, strahlt weiß in dem frühmorgendlichen Sonnenschein, flattert im Wind. Er kann in der Ferne das endlose Meer erkennen, aber er muss seine Augen ziemlich zusammenkneifen, denn das Wasser reflektiert die Sonnenstrahlen und blendet ihn. Er verspürt den Drang, sein morgendliches Ki-ke-ri-ki zu posaunen. Jedoch, der Gockel ist vom langen Flug zu müde und außerdem hat er Angst, dass die Hennen plötzlich am Horizont auftauchen könnten. Er beherrscht sich und schläft erschöpft ein, während allmählich die Menschen unten aufwachen, ihren Tag beginnen und dazu singen.
Die Zeit vergeht schnell, von Langweile keine Spur mehr. Viel blauer Himmel, Sonne, Wärme; sogar Kultur und Gesang hat sein Leben bereichert. Der Hahn auf dem Turm von Pisa ist maßlos glücklich. Drei Tage und drei Nächte genießt er seine Freiheit. Er vermisst kein Essen, schweigt und lauscht den vielfältigen Geräuschen nach, hört die Musik und den Gesang, welche, von unten kommend, ihn auf dem schiefen Turm erreichen. Kein Ki-ke-ri-ki ertönt aus seiner Kehle, denn er möchte auf keinem Fall einen Missklang erzeugen.
Doch am vierten Abend spürt er ein kribbeln im Hals. Es ist ihm, als ob er bald sein Schweigen nicht mehr aushalten könnte. Zunächst zaghaft, später jedoch entschlossener, entlockt er seinen Stimmbändern ein Ki, nach einer Weile folgt ein kräftigeres ke und hernach, plötzlich, singt er mit voller Tenorstimme Ki-ke-ri-ki, Ki-ke-ri-ki… Noch lange ertönen in der näheren und weiteren Umgebung die vollen Töne seines Gesangs. Sie schlagen Wellen und verursachen außerdem ein schönes Echo. Tief beeindruckt probiert er seine wohltönenden Laute noch einmal, versucht auch die Lieder zu singen, die von unten, von den vielen engen Straßen, zu ihm heraufkommen.
Als er genug gesungen hat, überfällt ihn die Sehnsucht nach seiner Heimat, seinem Misthaufen, denkt auch an seine armen, verlassenen Hennen. Er beschließt zurückzukehren. Als die Sonne groß und rot im Westen untergeht, dreht er sich nach Norden und startet mit kräftigem Flügelschlag. Wieder fliegt er die ganze Nacht hindurch.
Um vier Uhr in der Früh, gerade noch rechtzeitig vor Sonnenaufgang, erreicht er den Stall. Glücklich, daheim zu sein, weckt er mit seiner neu gelernten Melodie die Tiere und die Menschen. Die Hennen, die noch vor kurzem schlafend auf der Stange saßen, flattern gackernd und liebestoll um ihn herum, denn eine derart schöne Melodie und eine dermaßen wunderbare volle Stimme, haben sie noch nie gehört. Unnahbar und herablassend lässt sich der Gockel von der Masse bewundern und singt den ganzen Tag mit seiner sonoren Tenorstimme nicht mehr Ki-ke-ri-ki sondern - O sole mio.
Ja, das war die Geschichte vom Gockel, der nach Freiheit, Kultur, Sonne, Licht und Musik Sehnsucht hatte, und danach zufrieden zu seinem Stall, zu seinem Harem zurückkehrte. Selbst das Bespringen der gackernden Hennen machte ihm wieder Spaß!

© K.St.B.

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Kommentare (10)

ehemaliges Mitglied ja, es wird mit jedem Jahr das vergeht etwas anderes in Bezug auf das "Wegfliegen" und "Wiederkommen" so wie mein Gockel. Ich glaube, meine Zeit im Stall zu bleiben und von dort aus die Welt zu betrachten ist gekommen. Aber auch das ist schön. Ich genieße den Kanal "Phoenix" der mir die Welt, die Tiere, die Natur, näher bringt. Das beim Betrachten der Wunsch entsteht diese im realen Leben zu besuchen, das gehört auch dazu. Aber was nicht geht, geht eben nicht.
Ich Danke dir für deinen Eintrag, deinen Gockel und sein Kikeriki (sehr gelungen). Ich glaube, wir verstehen uns ganz gut.
Lieben Gruß
Karin (vogelfrei)
ehemaliges Mitglied ...ja, mit italienischem Flair gehts doch gleich besser.

Danke für diese heitere Geschichte, wie gut, wenn wir auch ab und zu wegfliegen, neue Eindrücke sammeln und dann auch gerne wieder in unser Stüble zurückkehren.
Doch - es ist alles ein bissle anders geworden.

lieben Gruß in Deinen Tag
Ingeborg

Wort und Bild(Clematis)


floravonbistram Ab und zu muss ein wenig Freiheit sein, damit man wieder gerne nach Hause geht. Dem Einerlei entweichen, Neues aufnehmen können, um es dann mitzunehmen...
Sehr schön
LG Flo
ehemaliges Mitglied ...mit euren Kommentaren ganz neue Geschichten...
Macht so weiter, ich freue mich zu lesen, welche Möglichkeiten da bestehen, nachdem mein Hahn von seiner Bildungsreise von Italien zu seinen Hennen zurückgekehrt ist.
Lieben Gruß
Karin (vogelfrei)
jacare4 Ich war noch schnell auf dem Hühnerhof, bevor der Hahn von seiner Bildungsreise in den Süden zurückkam. Da habe ich seine Hennen gesehen, wie sie quitschfidel ein Staubbad genommen haben. Endlich mal konnten sie das genießen, ohne dauernd vor ihm weglaufen zu müssen. Lach.

LG Udo
Gritt Das ist ja eine lustige Geschichte
und ich denke ,dein Hahn wir heute noch an
den schiefen Turm von Pias denke.....der ist wirklich sehr schief ein Wunder, dass er noch steht
Nun ist er wieder happy bei seinen
Hennen !!!
Herzlich grüsst dich
Margrit

Hier noch mein stolzer Hanhn, er hat Vorrang vor den Hennen

Malerei(Gritt)
omasigi habe ich bis heute keine Bekanntschaft gemacht.
Nun lese ich ein Hahn hat es geschafft. Eine wirklich
tolle Geschichte ... lach ...
Wie oft passiert es, dass man die grosse Freiheit sucht
und am ende gerne wieder zurueck in seinen ( Huehner ) Stall
zurueckkehrt.
Wie man aber an der Geschichte sieht, reisen bildet.
gruessle
omasigi
finchen zum Glück hat er diesen Turm nicht zum Umsturz angeregt. Doch als ich drunter stand, hat mir nur eine Taube auf die Bluse "bescheid" gegeben.
Kiker.............
das Moni-Finchen
ehemaliges Mitglied genau auf diesem Turm ist er gelandet und hat seine Stimme ausbilden können. Die deutschen Hennen sind ganz wild jetzt auf ihren Hahn... gönnen wir es ihm...
LG Karin (vogelfrei)
P.S. Deine Fotos sind SUPER! Da möchte man gleich wieder nach Pisa fliegen. Danke!!!
jacare4 Gute Idee, den Hahn aus Frust ganz nach Pisa fliegen zu lassen. Da muss er total ermattet am frühen Morgen, vielleicht sogar noch in der Dunkelheit der Nacht angekommen sein. Aber trotz all dem schönen Sonnenschein sehnt er sich nach ein paar Tagen nach seinen Hennen, obwohl es in Italien doch auch schöne Hühnermädels gibt. Ob er als möchtegern-Italogockel mit einem o sole mio bei seiner Hühnerschar mehr Erfolg haben wird. ... Wer weiß.






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