Der Brief

Der Brief

Heute lag er im Kasten, der Brief, den ich seit Wochen fürchtete,
schwarzumrandet der Umschlag – vorbei dachte ich, endlich vorbei – doch die Trauer durchflutete mich wie eine große dunkle Welle
und nahm mir für einen Moment die Luft.

Im letzten Sommer schlug das Schicksal zu, wegen andauernder
Rückenschmerzen war eine Generaluntersuchung fällig geworden
mit niederschmetternder Diagnose - Krebs, inoperabel, es gab
bereits Metastasen – auf seine Frage „wie lange noch Herr Doktor?“,
die unbestimmte Antwort „ein halbes Jahr, zehn Monate – ich weiß
es nicht ……. „

Es war, als hätte sich die Hölle aufgetan mit glühendem Schlund
ihn zu verschlingen, er brauchte einige Tage, mich von dieser
Prognose zu unterrichten – ich stand so hilflos neben mir, als ich es erfuhr. Da fehlen die Worte, weil es eigentlich gar keine Worte
für so eine Nachricht gibt, für diese Endgültigkeit, die zwei weitere
Ärzte bestätigt hatten. In meiner Hilflosigkeit spürte ich eine riesengroße Wut hochkommen, was dachte sich dieser Tod eigentlich, gerade ihn, diesen mir so wertvollen Menschen zu nehmen, ihm nur noch diese kurze Lebensspanne zu lassen.

Er liebte Anton Tschechow und wir hatten uns gerade sehr ausführlich über „Die Dame mit dem Hündchen" unterhalten –
mir gefielen seine Sichtweise, seine Fragen und Bemerkungen dazu.
Wir sprachen oft über die Bücher, die wir lasen, mich interessierte seine Meinung, besonders auch dann, wenn sie von der meinen abwich.

Ich hörte die Verzweiflung in seiner Stimme, als er mich bat,
ihm einen letzten, einen allerletzten Brief zu schreiben – danach nichts mehr. Er ertrüge es nicht, von seinem hoffnungslosen Zustand zu berichten – oh ich verstand ihn nur zu gut.

Er habe sichergestellt, dass ich erfahren würde, wenn das Endgültige eingetreten sei.


Und heute kam dieser von mir so gefürchtete Brief,
der gleichzeitig Erlösung war, Erlösung für ihn von einem Leben, das keines mehr war.

Er ging diesen Weg ohne Rückkehr in aller Konsequenz bis zum Ende, ich bewundere ihn ob seiner Festigkeit.

Ich verneige mich vor einem Menschen, wie es nur noch wenige gibt, ich trauere um meinen mir so lieben Freund, er wird in meinem Herzen und in meinem Gedächtnis weiter leben mit seinem Witz, seinem oft gewöhnungsbedürftigen Humor, seiner Schlagfertigkeit und seiner bewunderungswürdigen Haltung.


Dienstag, 7. Februar 2012